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Das Continuum Concept oder: Der Hippie-Vater in uns

Das Buch „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“ wird jungen Eltern gerne geschenkt. Darin propagiert Jean Liedloff das „Continuum Concept“, das auf ihren Erfahrungen bei einem Indianer-Stamm in Venezuela beruht. Kann deren Umgang mit ihren Kindern wirklich ein Vorbild für uns sein? Vieles ist unrealistisch, aber ein paar Ansätze können als Anregung gelten …

In der Schwangerschaft bekommen Mütter und Väter die unterschiedlichsten Geschenke von den unterschiedlichsten Leuten. Die werdenden Großeltern kramen 30 Jahre alte Strampler aus dem Keller. Arbeitskollegen bringen gerne mal herzige Stofftiere mit. Und die beste Freundin der Frau schenkt eigentlich grundsätzlich Jean Liedloffs Buch aus dem Jahre 1975 „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“.

 

Auch für Männer

Der wunderbare Untertitel „Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit“ lässt einen furchtbaren Pädagogenschinken erwarten. Wenn Frau dann das Buch glänzenden Auges durchgelesen hat, reicht sie es Mann mit einer unmissverständlichen „Das MUSST du auch lesen!“-Aufforderung. Aber: Keine Angst, Männer! Lest das Buch. Es lohnt sich wirklich.

 

Unter Indianern

Um was geht es also? Die New Yorkerin Jean Liedloff lebte in den 60er Jahren über zwei Jahre bei dem indigenen Volk der Yequana-Indianer in Venezuela. Ihre Beobachtungen – vor allem den Umgang mit Kindern und Neugeborenen – schrieb sie in diesem Buch nieder und entwickelte daraus das Continuum Concept.

 

Allumfassende Harmonie

Besonders aufgefallen war Liedloff schon beim ersten Besuch, dass die Yequanas so fröhliche und in sich ruhende Menschen sind. Im täglichen Umgang mit ihren Kindern glaubte sie schon bald den Grund für diese allumfassende Harmonie gefunden zu haben. Im Gegensatz zu den Erziehungsmethoden unserer westlichen Welt wurden bei den Yequanas die natürlichen Erwartungen eines Kindes als gegeben hingenommen. Und auch erfüllt.
Ein Kind will an der Brust trinken? Dann soll es das. Ein Baby will bei Mama sein? So sei es. Das Kleinkind will nicht alleine schlafen? Dann bleibt es selbstverständlich bei den Eltern im Bett.
Das ständige Tragen, die permanente Nähe zur Mutter – auch bei der Arbeit oder in der Nacht – setzten die Indianer konsequent um. Denn so bekamen sie das vermittelt, was sie später durch das Leben tragen sollte: grenzenlose (Selbst)Sicherheit.

 

Wir im Westen

Im krassen Gegensatz dazu vermittelt Liedloff immer wieder ihre Eindrücke von der westlichen, zivilisierten Welt, in der – ganz in 70er Jahre Geburts-Manier – die Babys in sterilen Krankenhäusern geboren werden und danach in ein Bettchen gelegt werden, in welchem sie sich allein und verängstigt fühlen. Die Schilderungen von einer Fahrt im Kinderwagen (das Kind sieht nur das anonyme Kinderwagendach, bestenfalls den Himmel) und im Gegensatz dazu die Geborgenheit im Tragetuch an der Brust der Mutter sind wunderbar überspitzte Darstellungen von zwei Perspektiven, die unterschiedlicher nicht sein können. Die aber sehr deutlich machen, wo in den Augen Liedloffs der Hund begraben liegt, dass „wir im Westen“ im Erwachsenenalter ständig Suchende und ständig Zerrissene sind.

 

Vorreiterin Liedloff

Jean Liedloff zeichnet mit Sicherheit mit dafür ein Stück weit verantwortlich, dass das Tragetuch sich auch inzwischen in der westlichen Welt immer größer werdender Beliebtheit erfreut. Und auch dafür, dass Eltern sich trauen – entgegen der „Jedes Kind kann schlafen lernen“-Manier – das Kind mit ins Familienbett zu nehmen bis sich das Kleinkind irgendwann selbst für die eigene Schlafstatt entscheidet.

Natürlich – und das erkennt man natürlich recht bald in dem Buch – ist es nicht möglich, alle Liedloff-Ansätze, also das gesamte Continuum Concept, in unserem Alltag umzusetzen. Während die Yequana-Frauen kein Problem damit hatten, ihre Babys in Tragetüchern mit aufs Feld zu nehmen, wären Büromeetings der Vorstandschaft zwar durch Tragetuch-wippende Papas vielleicht spannender, aber immer noch undenkbar.

Schön sind auch die Passagen, in denen es um Gefahren im Alltag geht. So ist bei den Yequanas von früher Kindheit an der Umgang mit Messern oder das einfach „Drauf-los-krabbeln-lassen“ ein Muss und auf keinen Fall mit hysterischen Schreien der Mutter verbunden. Auf einer viel befahrenen Straße in unserer westlichen Welt allerdings sein Kind einfach die Welt erkunden lassen, ist natürlich eher nicht ratsam.

 

Mitten drin und auch dabei

Das wohl Erstaunlichste (und vielleicht auch Nachahmenswerteste) ist: Die Yequanas konzentrieren sich nicht bewusst auf ihre Kinder. Während „zivilisierte“ Eltern schon Stunden vorher auf den Windelinhalt ihrer Kleinen warten, laufen alle körperlichen Angelegenheiten (z. B. auch das Laufen lernen) bei den Indianerkindern nur und lediglich nebenbei ab. Sie werden nicht kommentiert, nicht gelobt, nicht getadelt. Die Kinder sind MITTEN in der Aktivität der Erwachsenen drin und nicht andersrum. Eltern richten sich nicht nach dem Rhythmus der Kinder, sondern die Kinder leben automatisch den Rhythmus der Eltern und der Gemeinschaft mit.

 

Bitte keine Bibel!

Gerade in den 70er Jahren erfreute sich der Liedloff-Klassiker als Lieblingsbuch der Anhänger der antiautoritären Pädagogik. Bald musste man allerdings feststellen, dass Liedloffs Ansatz der repressionsfreien Erziehung – zumindest in unserer westlichen Welt – nicht griff und man sich nur weiter von den erwarteten Harmoniezuständen weg bewegte.
„Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“ sollte demnach keine Bibel für Eltern werden. Aber es kann einen wunderbaren Einblick in die Möglichkeiten im Umgang mit Kindern geben. Und uns auch ein Stück weit an das Naturvolk in uns selbst zurückbringen.

 

The Continuum-Concept, In search of Lost Happiness Addison-Wesley Publishing Company, 1975.

Deutsche Übersetzung (1977): Auf der Suche nach dem verlorenen Glück: gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit

http://www.amazon.de/Suche-nach-verlorenen-Gl%C3%BCck-Gl%C3%BCcksf%C3%A4higkeit/dp/3406585876/ref=sr_1_1?s=books&ie=UTF8&qid=1290858143&sr=1-1