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Attachment Parenting – Erziehung mit Herz und Verstand

Das Konzept des Attachment Parenting wurde von Kinderarzt Bill Sears geprägt. Diese Art des Umgangs mit dem Kind wird oft kritisiert –unter anderem sehr spektakulär in einem Artikel der „Time“ im Jahr 2012. Doch fernab der Kritik will Attachment Parenting das Kind nicht an die Eltern binden, sondern ihnen im Gegenteil die Selbständigkeit erleichtern.

Wichtige Grundlage des Attachment Parenting ist, dass wir als Eltern das Kind als kompetent ansehen, seine eigenen Bedürfnisse zu äußern. Was genervte Mütter und Väter als Terror empfinden ist nämlich genau das Gegenteil: Das Kind versucht für sich zu sorgen, indem es auf seine Bedürfnisse aufmerksam macht. Beim Attachment Parenting entscheiden also nicht die Eltern, welches Bedürfnis das Kind wann hat, sondern sie hören auf die Signale des Kindes und unterstützen es in seinem Versuch sich zu entwickeln.

 

Die Grundlagen des Attachment Parenting

Vertrauen ins Kind ist eine der wichtigsten Aspekte beim Attachment Parenting. Denn auch wenn wir es nicht immer wahr haben wollen: Kinder wissen sehr gut, was sie wann brauchen. Leider verlernen die Kleinen dieses Gespür schnell, wenn stets die Eltern entscheiden, welche Anliegen der Kinder „gerechtfertigt“ sind und welche nicht. Der kanadische Psychiater Elliott Parker hat die wesentlichen Aspekte von Attachment Partenting in zwei Leitsätzen zusammengefasst:

  • Die Eltern versetzen sich ins Kind und können so herausfinden, was im Kind vorgeht und worum es dem Kind gerade geht.
  • Eltern nehmen die Gefühle und Bedürfnisse des Kindes ernst und verhalten sich auch so.

Beim gelebten Attachment Parenting verhalten sich Eltern ihren Kindern gegenüber so wie sie selbst als Kind und auch jetzt noch behandelt werden wollen: Respekt- und rücksichtsvoll, liebevoll und zugewandt. Das heißt nicht, dass Eltern keine Grenzen setzen oder es im Zusammenleben keine Regeln gibt. Es bedeutet lediglich, dass diese Regeln auch und vor allem im Sinne der kindlichen Entwicklung aufgestellt werden und nicht starr sind, sondern sich flexibel an das Kind und seine Bedürfnisse anpassen.

Das Märchen vom kleinen Tyrannen

Die Ärztin Johanna Haarers erlangte durch ihre Erziehungsratgeber im 3. Reich traurige Berühmtheit. Sie propagierte ein hartes Regime schon für die Kleinsten, lehnte einen liebevollen Umgang kategorisch ab und versuchte einer ganzen Generation von Müttern zu vermitteln, dass Babys „der Feind“ sind. Auch wenn sich die Erziehungswissenschaft in dieser Beziehung glücklicherweise nahezu vollkommen gedreht hat – einige Mythen erinnern immer noch an die lieblose Behandlung der Kinder von früher. Dazu gehört zum Beispiel die sich hartnäckig haltende Idee, dass sich Kinder, deren Bedürfnisse von den Eltern allzu bereitwillig erfüllt werden, in kleine Tyrannen verwandeln. Deren ganzes Sein und Tun ist angeblich darauf ausgerichtet, die Eltern zu ärgern, zu quälen und herumzukommandieren – und das von Geburt an. Der Tyrannei wird dann ein strenges und unnachgiebiges Regime entgegengesetzt – traurig für die Kinder, aber auch für die Eltern, die nicht miterleben können, wie ihr Kind erblüht, wenn es sich geliebt und respektiert fühlt.

So geht Attachment Parenting

Attachment Parenting bedeutet weder antiautoritäre Erziehung noch hat es etwas mit Verwöhnen zu tun. Eltern, die mit ihren Kindern nach dieser Ausrichtung umgehen, befolgen einfach folgende Regeln:

  • Sie vertrauen darauf, dass ihr Kind sich seinem Alter und seiner Entwicklung entsprechend ausdrückt und verhält.
  • Das Kind ist von Geburt an eine eigenständige Persönlichkeit, die es verdient, dass sie in ihren Bedürfnissen und ihrem Ausdruck ernst genommen wird.
  • Das Kind ist so wie es ist perfekt, muss nicht verändert oder verbogen werden, sondern darf sich seinem Temperament gemäß und frei entwickeln.
  • Das Kind braucht keine Lernlektionen, sondern wird in dem unterstützt, was das Leben ihm an Lern- und Aha-Effekten zu bieten hat.
  • „Falsches“ und unangemessenes Verhalten hat einen guten Grund. Den versuchen Eltern herauszufinden und lasten es nicht dem Kind an, dass es nicht „funktioniert“.
  • Auch schlechtes Verhalten drückt etwas aus – nämlich ein kindliches Bedürfnis das nicht erfüllt ist.

„Verziehen“ ist nicht möglich

Attachment Parenting ist für viele Eltern ein rotes Tuch, hat es doch den Beigeschmack von verziehen und verwöhnen. Interessant dabei ist, welche Definition häufig hinter diesen Begriffen steckt. Wir haben vom ersten Tag an gelernt, unsere Bedürfnisse zu unterdrücken, zurückzustecken, und uns nicht so wichtig zu nehmen. Natürlich erscheint so erzogenen Eltern, als würden sie ihr Kind verwöhnen, wenn sie seine Bedürfnisse achten, ihm erlauben, diese auszudrücken und es bei der Erfüllung unterstützen. Wer das Attachment Parenting so vehement ablehnt, sollte einmal in seine eigene Vergangenheit schauen und darüber nachdenken, was er sich als Kind gewünscht hätte – häufig nämlich genau das, was diese Erziehungsform den Kindern mitgeben will.

So geht Attachment Parenting nicht!

Ein Kind, das im Grundschulalter noch gestillt wird? Eine Mutter, die nicht loslassen kann und auch dem 8-Jährigen immer noch die Kleidung hinlegt oder ihm die Schuhe bindet? Solche und ähnliche Bilder spuken in den Köpfen vieler Menschen, wenn sie vom Prinzip des Attachment Parenting lesen oder hören. Doch darum geht es gerade nicht! Attachment Parenting soll und darf keine Ausrede dafür sein, das Kind so lange wie möglich an sich zu binden und künstlich „klein zu halten“. Ganz im Gegenteil steckt die Idee dahinter, den Bedürfnissen des Kindes als Eltern zu folgen. Dazu gehört auch, es immer genau dann freizulassen, wenn es dieses Bedürfnis ablegt und nicht mehr braucht und nicht für es zu entscheiden, wann ein bestimmtes Bedürfnis normalerweise von selbst verschwindet. Ebenso gehört dazu, auf Fürsorge, die man vielleicht selbst gern noch geben würde, zu verzichten: Wenn ein Kind nun mal nicht mehr auf dem Schoß sitzen, an der Hand gehen oder sich die Jacke anziehen lassen will, dann müssen wir als Eltern loslassen.

Kinder, die so aufwachsen, sind – wenn die Eltern vieles richtigmachen – alles andere als anhänglich und verzogen. Sie wissen, dass ihre Wünsche wichtig sind und wert erfüllt zu werden. Sie wissen aber auch, dass Eltern und der Rest der Welt nicht ihre Diener sind. Dafür sorgen genau die Grenzen wie sie auch andere moderne Erziehungsstile propagieren und die im Zusammenleben mit anderen Menschen einfach unverzichtbar sind.