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Der Weg zum Ich – So lernen Kinder sich selbst wahrzunehmen

Am Anfang seines Lebens empfindet sich das Neugeborene noch als Einheit mit seiner Mutter. Erst nach und nach lernt und begreift es, dass es ein abgetrenntes Wesen mit eigenem Handlungsspielraum ist.

Je mehr Kinder sich selbst als eigenständig empfinden, umso ausgeprägter wird ihr Wille. Eltern können das bei ihrem Kind täglich beobachten. Die Kleinen werden immer klarer in dem, was sie wollen. Sie lernen zu beeinflussen und sich durchzusetzen. Dies mitzuerleben ist ein kleines Wunder, zeitweise aber auch sehr anstrengend - vor allem dann, wenn Wille des Kindes und Wille der Eltern genau entgegengesetzt sind.

 

Das Bewusstsein erwacht

Solange das Baby im Fruchtwasser schwimmt und auch in den ersten Lebenswochen begreift es sich als Einheit mit der Mutter. Durch die Interaktion mit anderen Menschen, aber auch durch die zeitweilige räumliche Trennung stellt es nach und nach fest, dass es sein Umfeld durch sein Verhalten steuern kann. Lächelt es, lächelt das Gegenüber zurück, schreit es, werden seine Bedürfnisse erfüllt. Das Baby lernt die Grundzüge der Kommunikation kennen und damit auch sein eigenes Verhalten. Die Personen, mit denen es interagiert, wirken als Spiegel seines eigenen Tuns. Je mehr die Beweglichkeit zunimmt, entdeckt das Baby zusätzlich auch seinen Körper und begreift ihn als etwas Getrenntes und Eigenständiges, das mehr und mehr seiner eigenen Kontrolle unterliegt.

Vor dem Ich kommt das Wollen

Lange bevor ein Kind „Ich will“ sagen kann, entwickelt es doch schon eigene Vorstellungen von dem, was es braucht und möchte. Das ist schon lange Zeit vor der gefürchteten Trotzphase, die etwa mit zwei Jahren beginnt, der Fall. Es hat eigene Ideen und möchte diese auch umsetzen. Es handelt aus eigenem Antrieb und unabhängig davon, was Mama oder Papa tun oder wollen. Dieser Eigenantrieb ist ausgesprochen wichtig und geht mit einer unbändigen Neugier einher. Nur so kann ein Kind die Welt kennenlernen und sich entwickeln.

Der Spiegeltest

Die Ich-Entwicklung des Kindes wird auch als Spiegelphase bezeichnet. Diesen Begriff hat der französische Analytiker Jacques Lacan bereits 1936 geprägt. Ob ein Kind sich selbst bereits als eigenständiges Ich erkennt, lässt sich mit einem ganz einfachen Test feststellen: Dem Kind wird – ohne dass es etwas davon bemerkt – ein Farbpunkt auf die Stirn gemalt. Wenn das Kind in den Spiegel sieht und sich überrascht an die Stirn fasst, können Sie davon ausgehen, dass es sich bereits in einem fortgeschrittenen Stadium der Ich-Entwicklung befindet. Ist dies nicht der Fall, brauchen Sie sich vorerst ebenfalls keine Sorgen machen, da dieses Stadium im Alter von sechs bis 18 Monaten erreicht wird. Einige Kinder brauchen sogar noch etwas länger dazu.

Ich bin, also will ich

Irgendwann mit Beginn des dritten Lebensjahres ist es dann so weit. Das Kind entdeckt ganz bewusst sein Ich. Bis es jedoch diese Ich-Erfahrung auch in der Sprache umsetzt, kann es noch eine ganze Weile dauern. Dies hängt unter anderem auch davon ab, wie Sie Ihr Kind ansprechen. Sprechen Sie von ihm und auch von sich häufig in der dritten Person, wird es in der Regel erst später zum Ich übergehen. Die Erkenntnis „Ich bin!“ ist überwältigend und deshalb auch von heftigen Gefühlen und umfassenden Lernprozessen begleitet. Ihr Kind kann nun auch mit dem Verstand erkennen, dass es die Fähigkeit hat, sich zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu entscheiden und dass es Dinge selber tun kann.

Diese Zeit kann für Eltern sehr anstrengend sein, denn jetzt ist der Entdeckergeist Ihres Kindes kaum mehr zu bremsen und das in jeder Hinsicht. Sei es, dass es sich durch waghalsige Kletteraktionen an seiner körperlichen Geschicklichkeit weidet oder dass es Versuche macht, wie schnell und intensiv es Sie zur Verzweiflung treiben kann. Alles wird ausprobiert und es beharrt kompromisslos auf der Durchführung seiner Vorhaben. Jetzt stecken Sie und Ihr Kind mitten in der Trotzphase.

Unterstützung und Grenzen

So sehr die Ich-Entwicklung eines Kindes die elterliche Unterstützung benötigt, so wichtig sind gerade jetzt klare Regeln und Grenzen. Ermutigen und loben Sie, wann immer es angemessen ist und lassen Sie Ihrem Kind viel Freiheit, sich selbst auszuprobieren. Auf der anderen Seite sind Konsequenz und Struktur wichtiger als je zuvor. Sie geben Ihrem Kind zum einen den Rückhalt, den es braucht, um sich frei zu entwickeln, zum anderen lernt es Autoritäten zu akzeptieren und gesetzte Grenzen anzuerkennen.

Was die Ich-Entwicklung uns Eltern bringt

Die Ich-Entwicklung ist der allererste Schritt der Loslösung von den Eltern. Mit dem Bewusstsein eigenständig und getrennt zu sein, entsteht gleichzeitig nach und nach das Begreifen, dass andere Menschen andere Bedürfnisse haben. Je mehr die Selbstwahrnehmung wächst, umso mehr versteht ein Kind in der Regel auch die Bedürfnisse der Eltern und kann sie akzeptieren. Freuen Sie sich darauf, wenn Ihr Kind Sie nicht mehr Sonntagmorgen um halb sechs weckt und eine Geschichte hören will, sondern Sie etwas länger weiterschlafen lässt und sich mit seinem Spielzeug beschäftigt.