Kinderarmut ist in Deutschland nicht gern gesehen. Und zwar im doppelten Sinne, denn die Politik verschließt davor in aufreizender Ignoranz die Augen. Medienberichte haben nun aber einmal mehr gezeigt, dass man ein Problem nicht beheben kann, indem man wegsieht oder es leugnet. In Deutschland gibt es Kinderarmut. Darunter leiden in erster Linie die Kinder selbst, die keine Lobby haben.
Kinderarmut: Oft geleugnet ist sie doch existent
Ursula von der Leyen ist mit allen Wassern gewaschen. Sie hat inzwischen das dritte Amt inne, ist für die deutschen Soldaten und das Verteidigungsministerium zuständig und hat meist eine schnelle Antwort auf Fragen parat. Als sie sich noch um Sozialpolitik zu kümmern hatte, wurde sie unter anderem auf das Thema Armut angesprochen. Die Antwort fiel sparsam aus und dürfte für die von Armut betroffenen Kindern wie ein Schlag ins Gesicht wirken: „Armut ist in einem reichen Land wie Deutschland relativ.“
Zu Ende gedacht funktioniert die Aussage von der Leyens nur, wenn man etwas hinzufügt, nämlich: relativ zu was? Zu hungernden Kindern in Afrika? Zu obdachlosen Familien im Gebiet rund um Fukushima? Zu jugendlichen Arbeitslosen in Griechenland, Portugal oder Spanien?
Offenbar ist Kinderarmut in Deutschland ein Thema, das gern totgeschwiegen wird. Auch im Koalitionsvertrag von Christdemokraten und SPD ist die Armut von Kindern mit keinem Wort erwähnt. Und zur Sicherheit lassen sich Politiker gern noch zusätzlich von sogenannten „Experten“ bestätigen, dass wir kein Problem mit Kinderarmut haben. Doch Papier ist geduldig. Und braucht keine Wintermäntel.
Geringes Einkommen ohne Not?
Eigentlich ist es klar geregelt, wann jemand arm ist. Entsprechend der gängigen wissenschaftlichen Definition gibt es in Deutschland 2,5 Millionen Kinder und Jugendliche, die arm oder von Armut bedroht sind, weil ihre Eltern über weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens verfügen. In einer konkreten Zahl ausgedrückt heißt das, dass Kinder betroffen sind, deren Eltern nicht mehr als 1.564 Euro verdienen (bei einem Paar mit einem Kind unter 14 Jahren). All jene, die Kinderarmut nicht sehen wollen, argumentieren auf eine höchst fragwürdige Art und Weise und verweisen darauf, dass ein geringes Einkommen nicht automatisch mit Not oder Armut gleichzusetzen wäre. Soziale oder materielle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sei auch möglich, wenn wenig Geld zur Verfügung stehe. Eine sinnvolle Begründung für die Argumentation kann man sich allerdings nur schwer vorstellen.
Wo die Armut dominiert
Grundsätzlich ist die Kinderarmut im Osten Deutschlands (26,3 Prozent) ausgeprägter als im Westen (17,4 Prozent), die Zahlen haben sich jedoch in den letzten Jahren stetig angenähert. In Bremen leben prozentual die meisten von Armut betroffenen Kinder, in der Oberpfalz die wenigsten. In absoluten Zahlen liegen die Regierungsbezirke Düsseldorf (186.000 Kinder), Köln (145.000 Kinder), Arnsberg (143.000 Kinder) und Berlin (136.000 Kinder) mit ihren traurigen Werten am weitesten vorn. Aber können sich die armen Familien in der Oberpfalz mehr leisten als die in Bremen? Bedeutet einkommensschwach wirklich, dass man auch arm ist? Und – die vielleicht entscheidende Frage – ist das überhaupt wichtig? Nicht, wenn man einmal einen Blick darauf wirft, was sich einkommensschwache Familie leisten – bzw. nicht leisten – können.
Es fehlt an fast allem
Kinderarmut in Deutschland lässt sich sicherlich durch Zahlen und Statistiken erklären, erläutern, bei Bedarf auch verharmlosen und sogar negieren. Dennoch sollte klar sein, dass zu einer gesellschaftlichen Teilhabe immer auch ein gewisses finanzielles Polster gehört. Kinder aus einkommensschwachen Familien mögen hin und wieder Glück haben, wenn ihre Eltern ihnen „das letzte Hemd“ geben, damit es ihnen gut geht. Aber ab einem gewissen Maß an finanzieller Not hat auch das zur Folge, dass das Geld an anderen Stellen fehlt. Immerhin fast 70 Prozent aller armutsgefährdeten Kinder in Deutschland kennen nicht das Gefühl, in den Urlaub zu fahren, weil die Mittel dafür einfach nicht vorhanden sind. Jedes siebte Kind im Osten und jedes elfte im Westen lebt in einer Umgebung mit feuchten Wänden. Fast gleich hoch ist der Prozentsatz der Kinder (10 bzw. 12 Prozent im Westen bzw. Osten des Landes), denen Winterbekleidung fehlt.
Wer ist betroffen?
Häufig sind Alleinerziehende von Armut betroffen, aber auch Menschen mit Migrationshintergrund. Doch auch wer in einer Beziehung lebt, in der beide Erwachsenen arbeiten, ist vor Armut nicht gefeit. Einer der Gründe ist die Einkommenssituation, die seit Jahren stagniert, in gewissen Bereichen sogar abnimmt. Da trotz der wirtschaftlichen Unterschiede zwischen unteren, mittleren und oberen Einkommen keine Differenzierung beispielsweise beim Kindergeld stattfindet, werden die jährlich investierten Milliardenbeträge letztlich nicht sinnvoll verteilt. Bei Familien mit Armutsrisiko geht das Kindergeld sofort für lebensnotwendige Dinge dahin. Urlaub gehört meist nicht dazu.
Kinder brauchen Schutz
Kinderarmut ist nicht durch die Kinder selbst zu bekämpfen. Sie sind uns gewissermaßen ausgeliefert, sind darauf angewiesen, dass wir für ein angemessenes Leben sorgen. Wir stehen in der Pflicht und haben die Verantwortung, uns mit allem, was uns zur Verfügung steht, um sie zu kümmern und ihnen das zu bieten, was sie brauchen. Nicht immer reicht das aus. Wenn die eigene wirtschaftliche Lage so schlecht ist, dass das Geld einfach nicht reicht, müssen wir uns mit der Situation arrangieren. Doch wir können mehr tun, als nur den täglichen Kampf ums Geld an- und aufzunehmen. Wir können unsere Kinder in die Lage versetzen, sich selbst bessere Voraussetzungen zu schaffen. Wir können – und müssen – offen mit ihnen sein, müssen ihnen klar machen, dass zum Beispiel Bildung ein Eckpfeiler in unserer Gesellschaft ist.
Es ist noch gar nicht so lange her, da war die Binsenweisheit „Nicht für die Schule, für das Leben lernen wir“ ein guter Grund für Kinder und Jugendliche, müde die Augen zu verdrehen und sich spannenderen Tätigkeiten zuzuwenden. Das ist heute anders, und es liegt auch an den Kindern selbst, die erkennen, wie ernst die Lage ist. Jugendliche, die heute ihre Energie in die Schule investieren, tun das nicht nur, um gute Noten zu bekommen. Sie tun es oft, weil sie den Ernst der Lage erkannt haben. Für die kindliche Entwicklung ist diese neue Ausgangssituation schwierig und wäre besser gar nicht vorhanden. An den Fakten ändert diese Erkenntnis aber nichts. Leider.
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