Gewalt gegen Kinder und Jugendliche - das sollte doch wohl ein Relikt vergangener Zeiten sein. Zumindest aber sollte es eine traurige Ausnahme der modernen Zeit sein. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Fast ein Viertel aller Kinder wird geschlagen. Die Unterschiede zwischen privilegierten Familien und solchen, die als prekär bezeichnet werden, sind jedoch nur auf den ersten Blick offensichtlich.
Geschlagene Kinder: Bittere Zeichen der modernen Welt
Die Ausstellung „Kinder sehen Gewalt“ des Kinderhilfswerks „Arche“ ist nichts für schwache Nerven. Gezeigt werden Bilder von Kindern, die Gewalt erleben mussten. Sechs- bis Elfjährige haben ihre Erlebnisse in traurigen Kunstwerken verarbeitet. Die Ergebnisse zeigen, wie sehr Kinder leiden, wenn sie Gewalt erfahren. Die meisten empfinden sie als eine Art Naturkatastrophe, die über sie hereinbricht, ohne dass sie etwas dagegen unternehmen könnten. Sie geben sich der Gewalt oft hilflos hin.
Die Ächtung von Gewalt auf dem Papier
Gewalt hat in der Erziehung nichts zu suchen. Deshalb wurde bereits vor 13 Jahren das „Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung“ verabschiedet. Der Papiertiger erwies sich jedoch als größtenteils zahnloses Geschöpf, das gegen die alltägliche Gewalt gegen Kinder und Jugendliche nur wenig ausrichten konnte. Eine aktuelle Studie hat ergeben, dass mit 22,3 Prozent fast ein Viertel aller Kinder manchmal oder sogar oft geschlagen wird. Welche Kinder Gewalt erfahren und welche weniger aushalten müssen, bestätigt zunächst die häufig verbreitete Annahme, in bildungsferneren Schichten gäbe es mehr häusliche Gewalt. Immerhin ergibt sich aus der Studie, dass beinahe jedes dritte Kind aus prekären Haushalten gelegentlich oder oft geschlagen wird. Aus privilegierten Elternhäusern haben „nur“ 22,7 Prozent der Kinder ähnliche Erfahrungen machen müssen. Noch deutlicher sind die Unterschiede bei Gewalt, die blaue Flecken verursacht hat. Hier gaben 17,1 Prozent der befragten Kinder aus prekären Verhältnissen an, derlei heftige Gewalt erfahren zu haben, während es in besser situierten Familien lediglich 1,4 Prozent waren.
„War ja klar, die Bildungsfernen ...“
Es scheint leicht zu sein, die Zahlen der Studie zu deuten. Je besser das familiäre Umfeld, je besser die Bildungsangebote und vielleicht das Wohnumfeld, desto weniger Gewalt müssen Kinder erfahren. In Familien mit einer hohen Privat-TV-Frequenz, Bibliotheken, die aus Groschenromane bestehen und Wohnungen, die in slumähnlichen Gegenden liegen, liegt Gewalt gegen Kinder einfach nahe. Die Eltern sind aus unterschiedlichen Gründen unwissend oder überfordert und reagieren entsprechend gewalttätiger als Eltern, die eine „gute Schule“ durchlaufen haben, sich kontrollieren und auf eine angemessene Erziehung ihrer Kinder achten können. Diese simple Kausalität herzustellen ist jedoch ein Fehler. Denn die Antworten einer Studie sind nur so viel wert, wie sie Wahrheitsgehalt enthalten. Und hier ist der Knackpunkt.
Klug gelogen
Die Studie mit dem Titel „Gewaltstudie 2013“ ist auf Face-to-Face-Interviews mit rund 900 Kindern und Jugendlichen sowie deren Eltern in Schriftform aufgebaut gewesen. Interessant sind die Abweichungen bei den Angaben der Kinder und deren Eltern. So gab es bei privilegierten Eltern erkennbar mehr Abweichungen zu den Angaben des Nachwuchses, Gewalt wird also dort häufiger „totgeschwiegen“, so auch bei den Angaben, die im Rahmen der Studie gemacht wurden. Bildungsferne Eltern sahen dagegen offenbar keinen Grund, nicht die Wahrheit zu sagen und sprachen verhältnismäßig offen darüber, ihre Kinder körperlich zu züchtigen. Dennoch ist die Gewalt in bildungsfernen Familien insgesamt höher, wenn auch nicht so sehr, wie es die Zahlen auf den ersten Blick vermuten lassen.
Du bist nichts, Du kannst nichts!
Neben der körperlichen Gewalt gibt es auch die subtilere Form, die dem Kind oder Jugendlichen das Gefühl vermittelt, nichts wert zu sein. Etwas weniger als 30 Prozent der Kinder aus sozial schwachen Familien gaben an, sich schon als nutzlos und dumm empfunden zu haben. Bei den Kindern der Mittelschicht waren es 28 Prozent, in privilegierten Haushalten empfinden 22 Prozent der Kinder dieses Gefühl. Bei Jugendlichen findet eine Annäherung statt. 30 Prozent der Kinder aus prekären Verhältnissen gaben an, derlei Erfahrungen zu kennen, bei den besser gestellten Familien sind es 22 Prozent. Allerdings gibt es gerade in Haushalten, die gut situiert sind, noch ein anderes Problem. Jugendliche erfahren hier oft das Gefühl, weniger wert als andere zu sein. Vermutlich steht diese Form der Gewalt im Zusammenhang mit dem erhöhten Leistungsdruck. Sie ist allerdings womöglich auch schuld an einem weiteren Problem.
Von „Behütet“ bis „Extrem“
Die Studie kam zum Schluss, vier Gruppen von Kindern ausgemacht zu haben. Die erste davon sind die „Behüteten“, die gewaltfrei und harmonisch aufwachsen, kaum Gewalt erfahren müssen und selbst nur selten welche ausüben. Sie machen 55 Prozent der Befragten aus. In die entgegengesetzte Richtung geht es bei den „Extremen“, die mit sieben Prozent vertreten sind. Sie erleben massive Gewalt und neigen selbst ebenfalls zu gewalttätigem Verhalten. Die „stillen Opfer“ sind mit 22 Prozent all jene, die unauffällig sind, selbst keine Gewalt ausüben, aber dafür Opfer gewalttätiger Handlungen sind. Die Studie stellte fest, dass sie am meisten gefährdet sind.
Eine vierte Gruppe fällt deutlich aus dem Rahmen, zumindest auf den ersten Blick. Sie stammt aus privilegierten Verhältnissen, besteht zum größten Teil aus Jungen und gibt an, keine Gewalt zu erfahren und sich mit den Eltern gut zu verstehen. Beim Selbstvertrauen erzielen diese Kinder hohe Werte, dennoch gibt es ein Problem. Sie neigen stark dazu, gegenüber anderen gewalttätig zu werden. Die Studie nennt diese Gruppe die „Piesacker“. Als Erklärung könnten zwei Ansätze hilfreich sein. Entweder sind die Angaben zur familiären Gewalt nicht korrekt, die Kinder verweigern sich dieser Tatsache aber innerlich. Oder aber der schon erwähnte Leistungsdruck verschafft sich durch Gewalt gegen andere ein Ventil.
Wie man die Zahlen und Ergebnisse auch deuten will (es gibt sicher zahlreiche Möglichkeiten, das in die eine oder andere Richtung zu tun), eines fällt auf: nach wie vor werden viel zu viele Kinder geschlagen. Gesetze greifen hier offenbar kaum, das Selbstverständnis für gewaltfreie Erziehung ist anscheinend längst nicht so in unserer modernen Gesellschaft verankert, als man gemeinhin glaubt. Eine traurige Erkenntnis.