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„Also später wird er bestimmt mal“ … was Eltern für Vorstellungen von der Zukunft ihrer Kinder haben

Ganz klar – Emil, der mit dem Bobbycar herumflitzt, wird bestimmt einmal Rennfahrer werden. Emma, die schon früh den Pinzettengriff beherrscht, Chirurgin. Nils Pickert hat seine Mitmenschen wieder einmal genau beobachtet und fragt sich, wie Eltern dazu kommen, aus dem Verhalten von ganz kleinen Kindern Prognosen für deren Zukunft abzuleiten.

Früher war bekanntermaßen alles viel einfacher. Wenn man in der Antike wissen wollte, ob die Götter ein bestimmtes Vorhaben ablehnen oder ihm wohlgesonnen sind, hat man sich einfach ein paar Vögel angeschaut. Und wenn man allgemein mehr über die Zukunft erfahren wollte, besah man sich dieses oder jenes Opfertier genauer. Heutzutage haben die Menschen zwar immer noch ein großes Interesse daran, was das Schicksal für sie und die ihren bereithält, aber unsere Formen des Aberglaubens sind vergleichsweise harmlos. Wir beschränken uns auf Horoskope in Zeitungen, gießen an Silvester Bleifigürchen und verfolgen Schornsteinfeger, damit sie uns die Hand geben. Und wenn wir Eltern sind, beobachten wir unsere Kinder im Alltag, um darauf zu schließen, was einmal aus ihnen werden wird. Gerade wenn die Lütten noch sehr klein sind, wird nahezu alles als Zeichen gedeutet. Wenn Emma schon vor ihrer Freundin den Pinzettengriff beherrscht, ist sie erstens eine Feinmotorikerin und wird zweitens aller Wahrscheinlichkeit nach mal Chirurgin. Oder Schachweltmeisterin. Auf jeden Fall etwas besonderes. Wenn Emil, nachdem er zum x-ten Mal unter Protest auf sein Bobby Car gesetzt wurde, ganz alleine und „freiwillig“ durch sein Zimmer wutscht, dann kann das eigentlich nur eins bedeuten: Sebastian Vettel muss sich schon mal warm anziehen und damit rechnen, dass seine Rekorde demnächst von jemandem gebrochen werden, der zu diesem Zeitpunkt noch jünger ist, als er es war. Und wer gerne in der Wanne planscht, schwimmt später einmal schneller als alle anderen oder umsegelt die Welt noch jünger als die sechzehnjährige Laura Dekker.

 

Und was wird aus den Kindern, die sich unerwünscht benehmen?

Natürlich gibt es auch Momente, in denen sich Eltern unerfreulichere Schicksale ausmalen. Wenn die kleine Tochter nicht aufhören will, die Köpfe anderer Kinder mit Bauklötzen zu traktieren, dann fragt man sich unwillkürlich schon, ob sie auch später noch diesen Hang zum Ausflippen haben wird. Und wenn der kleine Sohn zu denen gehört, die einfach nicht aufhören können zu essen und die ihre Mahlzeiten nur unterbrechen, um lautstark mitzuteilen, dass die Essenszufuhr viel zu langsam von statten geht, dann errechnet man im Geiste schon seine Kleidergröße im Erwachsenalter. Aber die meiste Zeit spinnen sich Eltern all die phantastischen Möglichkeiten aus, die ihre Kinder erwarten, wenn sie einmal groß sind. Dass diese Möglichkeiten so phantastisch sind, liegt vor allem an drei Dingen.

Wie kommen Eltern dazu, sich die Zukunft ihrer Kinder so auszumalen?

Zum einen am sogenannten Rückführungsmoment. Vielleicht haben Sie davon ja schon einmal gehört: Menschen, die sich von anderen in ihre angeblichen früheren Leben „rückführen“ lassen, sind dabei in den seltensten Fällen pestkranke, unbedeutende Tagelöhner, sondern irgendjemand wichtiges. Ein bisschen adelig sollte es schon sein. Und aus den Leuten, die früher einmal Kleopatra waren, ließe sich ohne Probleme eine gemischte Fußballmannschaft formen. Ähnlich verhält es sich mit den Erwerbsbiographien unserer Kinder. So viele Formel 1 Fahrer und Weltraumforscherinnen kann es gar nicht geben, wie wir in unserem Nachwuchs sehen. Aber schließlich wollen Eltern für ihre Kinder nur das Beste.

Zum anderen liegt es an dem Phänomen der Rückschau. So fällt es den meisten Erwachsenen unheimlich schwer, sich die Gesichtszüge ihrer Kleinkinder als Teenager oder Erwachsene vorzustellen. Gleichzeitig haben sie gar keine Schwierigkeiten damit, in den Gesichtern ihres Teenagernachwuchses die Gesichtszüge der Kleinkinder zu identifizieren, die sie einmal gewesen sind. Dann wirkt es so, als wäre etwas anderes gar nicht möglich. Hochrechnen funktioniert also eher nicht, Wurzelziehen in der Rückschau umso mehr.

Und zu schlechter Letzt ist auch unsere heutige „Superstar-Gesellschaft“ daran schuld. Seit über einem Jahrzehnt wird Eltern wie Kindern inzwischen medial eingetrichtert, dass zwischen Hartz IV und dem „glorreichen“ Gewinn einer Castingshow nichts existiert. Gewöhnliche Biographien mit gewöhnlichen Jobs und gewöhnlichen Sorgen und Nöten scheint es nicht mehr geben zu dürfen. Das ist schade und anstrengend für die Kleinsten.

Denn Kinder sind daher zunächst einmal genau das: Kinder. Und nicht die Vollstrecker der Vorstellungen ihrer Eltern. Auch nicht die mit sagenhaft genauem Pinzettengriff.