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„Ohren zu und durch!“ Ein wirklich guter Ratschlag für werdende Eltern

In der Schwangerschaft erhalten werdende Mütter auch von Menschen, die sie kaum kennen, ungefragt Ratschläge und Prognosen zur Geburt und zur Zeit danach. Seltsam ist jedoch, dass es sich dabei in der Regel um Horrorstories handelt – gut gelaunte Schwangere und die Aussicht auf eine problemlose Geburt scheinen die Umwelt zu provozieren, meint Autor Nils Pickert.

Eine Schwangerschaft ist eine erstaunliche Sache. Neben all den unendlich verwirrenden, neuen Eindrücken und Empfindungen, die sie für das Elternpaar bedeutet, ist Schwangerschaft auch ein soziales Phänomen, das die seltsamsten Dinge mit anderen Menschen macht. Wenn Sie schon einmal schwanger waren oder eine Schwangerschaft begleitet haben, wissen Sie wahrscheinlich, wovon ich spreche. Wenn Sie vorhaben, schwanger zu werden, oder es gerade sind: Wappnen Sie sich!


Schwangere sollten sich gegen die Orakel der Mitmenschen wappnen

Ihnen vertraute oder auch völlig wildfremde Personen werden versuchen, Ihren Bauch zu berühren und sich ohne jegliche Expertise und wahrscheinlich nicht mal unter dem dafür, wie schon in der Antike bekannt war, notwendigen Drogeneinfluss als Orakel versuchen. Dabei werden Sie allerhand zu hören bekommen. Genauer gesagt wird man es Ihnen um die Ohren hauen. Über die Auswirkungen von Rund- und Spitzbäuchen auf das Geschlecht des Kindes wird man sie informieren oder darüber, dass nachdunkelndes Haar, Hautausschlag oder ähnlich unwillkommene körperliche Veränderungen nur eines bedeuten können: Sie bekommen natürlich ein Mädchen, weil die nämlich die Schönheit von ihrer Mutter abziehen und für sich selbst beanspruchen. Wenn Sie hingegen eine strahlende, unbelastete Schwangere sind, dann wird es „auf jeden Fall“ ein Junge. Wobei: Vorsicht! Gutgelaunte Schwangere provozieren ihre Umwelt aus irgendwelchen Gründen oft zu „Das wird noch alles ganz furchtbar!“ Kommentaren. Wenn Sie also das erste Trimester gut überstanden haben, Ihnen nicht die ganze Zeit schlecht war und Sie sich grundsätzlich auf Ihren Nachwuchs freuen, wird man Ihnen mitteilen, dass der Rest Ihrer Schwangerschaft noch richtig schlimm wird. „Wart mal ab, das kommt noch!“ Denn irgendetwas muss offenbar noch kommen, damit die intime, subjektive Erfahrung von Schwangerschaft, Geburt und Kindererziehung vergemeinschaftet werden kann. Und dies geschieht in der Hauptsache durch anhaltende Hinweise auf bevorstehendes Leid, weil die Gesellschaft sich so offensichtlich Einflussnahme durch heraufbeschworene Hilfsbedürftigkeit verspricht. Zufriedene Schwangere erkundigen sich nämlich nicht bei jeder sich bietender Gelegenheit nach Tipps und Zuspruch von anderen. Zufriedene Schwangere haben auch selten bis gar nicht dieses milde Panikgefühl, das werdende Eltern zu willenlosen Konsumenten werden lässt.


Eine einfach Schwangerschaft, ein problemloses Kind? Kann nicht sein!

Also seien Sie gewarnt! Es kommt noch was. Wenn das erste Trimester in Ordnung war, dann wird das letzte bestimmt die Hölle. Mit Schandmaske, Wassereinlagerungen und nicht-mehr-Schlafen können für Frauen. Mit gar keinem Sex und dauerhaft schlechtem Gewissen für Männer. Falls auch das Sie nicht schluchzend in die Arme all der Wohlmeinenden treiben sollte, die gerne auch ein Wörtchen mitzureden hätten, werden alte Kriegsgeschichten ausgepackt. Sie glauben gar nicht, was alles während einer Geburt wehtun, bluten und reißen kann. Nabelschnüre, sechsmal um den Hals von kleinen Babys gewickelt – alles schon gehabt. Dabei verhält es sich mit der Häufigkeit von Horrorgeschichten ungefähr so wie mit der Prominentendichte bei Rückführungen in frühere Leben. Sie wissen schon: Die meisten waren schon damals etwas Besonderes.  
Außerdem sind Geburten in Erzählung immer wie Blockbustermovies: Mit 20 Stunden DVD-Extra im Director‘s Cut. Falls die Geburt jedoch auch relativ glimpflich ablaufen sollte, wird der namenlose Schrecken auf die Erziehung ausgeweitet: Kind wird nur schreien! Wart mal die Trotzphase ab! Schule ist heute furchtbar! In der Pubertät sind sie unausstehlich!


Sie werden sich nie genug vorbereiten können – niemand kann das. Deswegen sprechen ja auch alle immer darüber und reden auf Sie ein. All diese Mahnungen sind nicht wirklich dazu da, um Ihnen irgendwie zu helfen, sondern um sich selbst zu vergewissern, dass man das doch trotz des ganzen Stresses und der Selbstzweifel ziemlich großartig macht mit dem Nachwuchs. Also hören Sie am besten nur auf Leute, denen Sie eigentlich schon immer am Herzen gelegen haben. Und erzählen Sie im Gegenzug später nicht armen, ahnungslosen Paaren Schauermärchen. Sonst wird das alles noch ganz schlimm für Sie ausgehen.
 

Nils Pickert, Jahrgang 1979, gebürtiger (Ost-)Berliner, lebt und arbeitet als freier Autor und Texter in Norddeutschland. Er ist passionierter Koch und Vater zweier Kinder.