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Wieviel Erziehung braucht ein Kind? Was ist noch zeitgemäß?

Lana ist mit ihrer Mutter im Supermarkt, greift nach einer Puppe, die Mutter zieht sie weg und zischt: Finger weg, das darfst Du nicht anfassen! Warum eigentlich nicht? Und wie viele unserer Erziehungsmaßnahmen fallen wirklich auf fruchtbaren Boden? Manchmal ist weniger mehr und einige unserer Erziehungswahrheiten sind vielleicht längst überholt!

Die Erziehung hat sich im Laufe der Zeit oft gewandelt, die Tendenz geht weg vom autoritären Stil mit vielen Regeln und Strafen hin zum autoritativen Stil, der auf Verständnis und ein Miteinander setzt. Immer noch sind Kinder jedoch vielen Regeln unterworfen und einige Schlagworte wie Grenzen, Lob oder Trotzphase sind in den Köpfen von Eltern fest verankert. Doch braucht und gibt es das wirklich zwangsläufig?

 

Erziehungsstile im Wandel

Die autoritäre Erziehung, wie sie noch vor wenigen Jahrzehnten die Regel in den Familien waren, beruht auf einer Vormachtstellung der Eltern. Sie haben die Kontrolle über das Kind und treffen alle Entscheidungen. Die kindlichen Bedürfnisse sind dabei kaum bis gar nicht wichtig. Es geht ums Gehorchen und Konditionieren. Durchgesetzt werden die Regeln durch Strafen, die teilweise drakonisch waren. Liebe und Zuwendung spielten eine untergeordnete Rolle und waren teilweise sogar nicht erwünscht.

Anders sieht die optimale Erziehung heute aus: Obwohl die Eltern nach wie vor als oberste Instanz agieren, tun sie dies unter Berücksichtigung der kindlichen Bedürfnisse. Auf der einen Seite gibt es klare Regeln, auf der anderen hat das Kind ein Mitspracherecht. Die Regeln, die idealerweise mit dem Kind zusammenentwickelt wurden, werden angepasst – nach Bedarf und wiederum in gemeinsamer Absprache. Gerade der zweite Stil stellt Eltern vor viele Aufgaben und Herausforderungen, dies insbesondere dann, wenn sie selbst anders erzogen sind und noch aus einem sehr autoritären Elternhaus stammen.

Lange Zeit nicht mehr akzeptiert und für nicht sinnvoll wurde der permissive Stil empfunden, bei dem das Kind die Kontrolle hat. Es gibt nur sehr wenige Grenzen, die Kinder haben große Freiheiten, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und müssen kaum oder gar keine Verantwortung für ihr Handeln übernehmen.

Am Anfang stehen die Eltern

Nach landläufiger Meinung setzt sich Erziehung aus der Vorbildfunktion der Eltern sowie dem Setzen klarer Grenzen zusammen. Auch Lob und Zuwendung spielen eine wichtige Rolle. Verhalten sich Kinder auffällig, dann sehen Eltern oft nicht den Zusammenhang mit sich selbst: Hat ein Kind zum Beispiel Probleme im Kontakt mit anderen und verhält sich unsozial und unkooperativ, dann zeigt mit Sicherheit auch eine Bezugsperson ein ähnliches Verhalten. Aufgeschlossene Erziehungswissenschaftler wie zum Beispiel der Däne Jesper Juul sind überzeugt, dass Kinder stets kooperieren wollen. Legen sie dieses Verhalten ab, dann sind die Eltern „schuld“. Die Konsequenz daraus: Nicht das Kind, sondern die Eltern müssen etwas verändern.

Ein neuer Blick auf Regeln und Grenzen

Selbst im autoritativen Stil gibt es viele Grenzen und Regeln. Diese dienen zum Teil kaum der Erziehung des Kindes, sondern sollen das Funktionieren im Alltag gewährleisten und für eine positive Außenwirkung sorgen. Wird einem Dreijährigen verboten mit den Fingern zu essen, hat das keinen erzieherisch positiven Effekt, sondern befriedigt lediglich die Konditionierung von Eltern oder Großeltern: Mit den Fingern isst man nicht! Dies wird von den Erziehungskritikern als aggressive Grenze bezeichnet. Dem gegenüber stehen andere Grenzen, nämlich die defensiven. Sie dienen dem „Schutz“ der Eltern, des Kindes oder auch der Umgebung vor übergriffigem Verhalten. Das spiegelt sich auch in der Formulierung wieder: Bitte iss nicht mit den Fingern, Du verbrennst Dir sonst die Finger. Um hier den Unterschied zu erkennen, müssen Eltern sich stets kritisch prüfen. Warum verbiete ich meinem Kind etwas, wozu ist diese Grenze wirklich gut?

Die Sache mit der Konsequenz

Konsequenz wird in der Erziehung großgeschrieben. Nur Eltern, die einmal aufgestellte Regeln auch einhalten, können sich durchsetzen. Allerdings birgt das Prinzip auch Gefahren: Was, wenn das Kind sich standhaft widersetzt? Dann verführt die Idee von der Konsequenz in der Erziehung doch schnell dazu, das Kind zu erpressen oder es einzuschüchtern – zum Beispiel durch die Androhung von Sanktionen. Eltern haben die Macht, aber kann Machtausübung zum Wohl des Kindes eingesetzt werden?

Eine Lösung dieses Dilemmas, bei dem es keine Verlierer gibt, ist zeitaufwändig, aber effektiv: Verweigert sich das Kind, dann fragen Eltern nach den Gründen und finden mit dem Kind zusammen einen Weg, der einerseits bestimmte Grenzen nicht komplett aushebelt, andererseits aber auch die Bedürfnisse des Kindes – die die Verweigerung ja ausgelöst haben – berücksichtigt. Bei diesem Vorgehen spielt Konsequenz plötzlich kaum mehr eine Rolle.

Aufmerksamkeit und Lob

Kinder brauchen Zuwendung und positives Feedback. So lautet eine der obersten Regeln moderner Kindererziehung. Auch daran gibt es Kritik: Jean Liedloff, die lange Zeit mit Ureinwohnern in Venezuela verbracht hat, findet es wichtiger, dass Kinder ganz selbstverständlich dabei sind und die Eltern erleben, aber nicht selbst extrem in den Fokus gestellt werden. Dies ist allerdings in unseren heutigen Familienstrukturen oft der Fall. Helikoptereltern lassen ihre Kinder kaum zum Atmen kommen, dabei ist es das, was sie am nötigsten brauchen: Freie Räume, um zu lernen und zu experimentieren mit der Gewissheit, dass die Eltern da sind, wenn sie gebraucht werden. Was das Loben angeht, ersetzt dies allzu oft die Liebe, so Jesper Juul. Lob wie auch Tadel sind stets Bewertungen und die können ganz schön verunsichern. Macht ein Kind etwas richtig gut, dann ist es sinnvoller, über die Gefühle zu sprechen, die dies in den Eltern auslöst als zu betonen, wie toll das Kind gerade war.

Viel Erziehung in Form einer „Gebrauchsanleitung fürs Kind“ bleibt also nicht übrig. Oft wird Erziehung immer noch so verstanden, dass das Kind geformt und für die Welt passend gemacht wird, dass es funktioniert – wenn auch zu seinem Besten. In Wirklichkeit brauchen und wollen Kinder etwas ganz anderes: Sie wollen sich geliebt und angenommen fühlen - und dazu braucht es nur wenige Grenzen.