Lang lang ist's her. Und trotzdem graben sich immer wieder Kindheitserinnerungen den Weg nach oben, ans Licht. Das ist zuweilen wunderschön und manchmal schmerzhaft. Wenn ich an meine Kindheit denke, dann sehe ich viele Kinder um mich herum, wir spielen auf dem grünen Hinterhof. Und ich sehe die Scheidung meiner Eltern. Es ist ein Blick in den Nebel, der vieles unklar lässt und einiges klarer macht.
Meine ganz persönlichen Kindheitserinnerungen – Blick in den Nebel
Ich hatte keine schreckliche Kindheit. Ich habe viel Schönes erlebt. Aber es war auch nicht alles eitel Sonnenschein, es wäre gelogen, würde ich das behaupten. Und auch wenn wir Menschen dazu neigen, die Vergangenheit zu idealisieren, gibt es doch Erinnerungen, die ich lieber nicht hätte. Trotzdem sind sie da. Und sie werden bleiben.
Das Fenster zum Hof
Jeden Abend um kurz vor sechs wurden zahlreiche Fenster im Hinterhof geöffnet. In der Regel zehn bis zwölf Mütter hatten eine gemeinsame Botschaft zu verkünden, nur die Namen den Angesprochenen unterschieden sich. Da wurde gerufen: „Diana, raufkommen, Abendbrot“ oder „Xandro, mach Dich fertig für die Sesamstraße!“
Es war jeden Abend das gleiche Ritual. Und jeden Abend erstarb am Abend der Hinterhof und wurde zu einem schweigsamen Ort, an dem zuvor ein Haufen zufriedener Kinder Fußball gespielt hatte, Verstecken, mit Go-Carts gefahren war und in der Sandkiste bombastische Burgen gebaut hatte. Ich war immer hin- und hergerissen damals; einerseits wollte ich weiterspielen, mich nicht von den anderen Kindern trennen. Andererseits war das Abendprogramm mir wichtig. Erstens hatte ich nach stundenlangem Spielen Hunger, zweitens war ein Abend ohne Sandmännchen und Sesamstraße undenkbar. Gleichzeitig war klar, dass es nun nicht mehr lange dauert, bis ich ins Bett musste. Und müde war ich selbstverständlich noch lange nicht.
Mein Vater, der Dieb!
Mein zwölfter Geburtstag war noch gar nicht lange her, als ich das kreideweiße Gesicht meiner Mutter sah. Sie hatte eine Schublade im Wohnzimmer herausgezogen und stand fassungslos davor. Ich wusste nicht, was passiert war, aber es musste etwas Schlimmes sein, das war meiner Mutter anzumerken. Mein Vater kam kurze Zeit später nachhause und sah ebenfalls sofort, dass es Ärger geben würde. Und er wusste auch, worum es ging, als er die offene Schublade sah. Dort drinnen befand sich das Scheckheft meiner Oma. Sie war nicht reich, nicht einmal wohlhabend, aber eine sparsame Frau. Und auf ihrem Konto hatte sie eine Reserve liegen. Bis zu diesem Tag. Mein Vater hatte sich schon Tage zuvor an das Scheckheft gemacht und Geld vom Konto meiner Oma abgehoben. Als meine Mutter das entdeckte, war es der Anfang vom Ende der Ehe meiner Eltern. Die Tatsache, dass mein Vater immer wieder Werkzeug aus der Firma mitgenommen hatte, in der er arbeitete, machte das Ganze nicht leichter. Und als er dabei erwischt wurde, platzte meiner Mutter endgültig der Kragen. „Ich habe es Dir immer und immer wieder gesagt! Hör mit der Klauerei in der Firma auf, irgendwann erwischen sie Dich. Du hast Familie!“
Das Wort „Familie“ kreischte sie regelrecht. Aber wäre sie ehrlich sich selbst gegenüber gewesen, hätte meine Mutter wohl gewusst, dass wir längst keine richtige Familie mehr waren. Mein Vater wurde gefeuert. Wegen ein paar Werkzeugen, die er unbedingt haben, aber nicht bezahlen wollte. Nun zahlte er einen anderen Preis. Meine Mutter ließ sich nach vielen Jahren Enttäuschung, Frust und Wut von meinem Vater scheiden. Es war die Summe allen Schmerzes, die zur Scheidung führte, und davon hatte es viel gegeben im Laufe der Jahre. All das war nur kurz nach meinem zwölften Geburtstag.
Weiterleben und schreiben
Das Leben ging weiter, auch nach der Scheidung, und wir waren nicht unbedingt unglücklicher als vorher. Vieles war anders, die Vaterrolle fehlte, aber wir haben es geschafft, gemeinsam durch die schwere Zeit zu gehen. Irgendwann fehlte mein Vater nicht mehr, wir hatten es mit ihm geschafft, ohne ihn ging es auch. Und nicht unbedingt schlechter. Ich entdeckte mein Talent zum Schreiben und begann, mich für Politik zu interessieren. Zuhause übernahm ich mehr Verantwortung, als gut für mich war. Und so übersprang ich die eine oder andere Stufe der kindlichen Entwicklung unfreiwillig, war viel mit älteren Freunden zusammen und fing an, gegen den Krieg und Atomwaffen zu protestieren. Ich wurde zum Freak, zum Hippie, kurze Zeit zum Punk und sammelte Erfahrung mit Alkohol und Drogen. Trotzdem schaffte ich die Schule, machte eine Ausbildung und arbeitete lange in meinem Beruf. Nebenbei schrieb ich. Anfangs Tagebuch, es gab eine Menge zu verarbeiten und ich nutzte meine Fähigkeit, mich auszudrücken, um Erlebtes zu verdauen. Aus meinen Tagebuchaufzeichnungen wurden Gedichte, aus den Gedichten Artikel für verschiedene Schülerzeitungen. Ich schrieb politische Texte, begann, mich mit Satire zu befassen und entdeckte, dass politische Kritik auch mit Humor zum Ausdruck gebracht werden kann.
Was bleibt
Es sind die Erinnerungen, die bleiben. Wenn ich heute meine Mutter besuche - sie lebt noch immer in der Wohnung, in der wir zu fünft gewohnt haben - werfe ich einen Blick auf den Hof. Er ist heute still, jeden Tag. Es gibt keine Kinder mehr, die dort spielen, kein Geschrei, kein Fenster zum Hof, das kurz vor der Sesamstraße geöffnet wird. Einige Singles hängen ihre Wäsche im Hof auf. Hin und wieder kümmert sich jemand um ein paar Pflanzen. Aber wenn ich die Augen schließe, sehe ich viele Kinder im Hof spielen. Auch mich. Das bleibt.
Der Autor möchte ungenannt blieben, ist der Redaktion aber namentlich bekannt.