© ginae014 - Fotolia.com

Kinderrechte in Deutschland: Mehr Schein als Sein

Kindern in Deutschland geht es – vergleicht man die Situation mit vielen anderen Ländern – scheinbar gut. Doch ein Blick hinter die Kulissen zeigt, dass einiges im Argen liegt. Kinderrechte in Deutschland mögen oberflächlich vorhanden sein. Faktisch aber bleibt davon bei näherer Betrachtung nicht sehr viel übrig.

Der kleine Paul (8 Jahre) kennt die UN-Konvention für Kinderrechte nicht. Was er aber kennt, ist das Gefühl hungrig zu sein. Immer mehr Kinder rutschen in die Armut ab, ohne die geringste Chance, etwas dagegen unternehmen zu können. Sie sind hilflose Opfer, die nicht verstehen, warum sie arm sind. Und sie dürften solche Opfer eigentlich überhaupt nicht sein. Aber der Reihe nach.


Kinder sind Kinder, keine kleinen Erwachsenen

Im Jahr 1989 fiel nicht nur die Mauer, was heute groß gefeiert wird. 1989 war auch das Jahr, als die Internationale Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN) verabschiedet wurde. Auch das könnte ein Grund zum Feiern sein, wären denn die dort aufgeschriebenen Kinderrechte in Deutschland umgesetzt worden. Leider ist das aber nicht der Fall. In zahlreichen Lebensbereichen bekommen Kinder nicht die Aufmerksamkeit und den Schutz, der ihnen zustände. Und den sie bräuchten. Alleine das Grundgesetz weist eine peinliche Lücke auf, denn dort sind Kinder nicht aufgenommen worden. In der Konsequenz werden sie daher als „kleine Erwachsene“ betrachtet, die Rechte haben wie jeder andere Mensch auch. Aber so löblich (und selbstverständlich) das auch sein mag, es greift zu kurz. Denn Kinder sind eben nicht nur kleine Erwachsene, sondern Kinder. Sie brauchen besonderen Schutz, sie brauchen Bildung, sie haben Bedürfnisse, die sich nicht 1:1 auf Erwachsene übertragen lassen. Dies soll an einigen Beispielen verdeutlicht werden.


Die ärmsten Armen sind die Kinder

Es braucht nicht viel, um die Defizite bei den Kinderrechten ausfindig zu machen. Beginnen wir bei Kindern, die in Pflegefamilien aufwachsen. Dafür gibt es in aller Regel gute Gründe, und meist ist die Pflegefamilie für das Kind besser. Weil die leiblichen Eltern das Kind nicht angemessen erziehen und versorgen können oder wollen. Kindern, die in Pflegefamilien aufwachsen, geht es meistens ziemlich gut. Tauchen allerdings plötzlich – auch nach vielen Jahren – die biologischen Eltern wieder auf und fordern ihr Kind zurück, haben die Pflegeeltern kaum eine Chance, etwas dagegen zu unternehmen. Die Kinder selbst natürlich auch nicht.


Ein weiteres Problem sind die – wie es in der UN-Konvention heißt - „angemessenen Lebensbedingungen“. Es versteht sich von selbst, dass dazu auch das finanzielle Auskommen gehört. Aber immer mehr Kinder in Deutschland werden Opfer von Armut. Das trifft nicht nur Grundbedürfnisse, sondern dringt auch in andere gesellschaftliche Bereiche vor. Zwar verweist die Politik gern auf Maßnahmen zur Verbesserung von Familien, und hier und da greifen diese sogar. Alles in allem aber sind sie sehr allgemein gehalten, was konkrete Auswirkungen hat. So können Kinder nur Nachhilfeunterricht nehmen oder am Vereinsleben - zum Beispiel eines Sportvereins - teilhaben, wenn die finanzielle Situation der Eltern dies erlaubt. Eine allgemeine Familienförderung reicht hier nicht aus, gezielte Hilfen wären wichtig.


Drittes Beispiel: Flüchtlingskinder. Sie haben hierzulande keineswegs die gleichen Rechte wie deutsche Kinder, können unter anderem keine therapeutischen Maßnahmen in Anspruch nehmen. Wenn man bedenkt, dass Flüchtlingskinder in der Regel zutiefst traumatisiert sind und dringend ärztlicher bzw. therapeutischer Hilfe bedürfen, ist das durchaus als Skandal zu bezeichnen.


Wer nicht fragt, bleibt dumm?

Diese Zeile aus der Sesamstraße ist ein zeitloser Klassiker. Und einer, der nach wie vor Bestand hat. Wir müssen unsere Kinder ermutigen und auffordern, Fragen zu stellen, wenn sie etwas nicht verstehen. Doch der kindliche Horizont ist erst Schritt für Schritt dabei, sich auszuweiten und im Zuge dessen Perspektiven zu entwickeln, die zunächst nicht sichtbar sind. Deswegen haben Erwachsene eine weitere Aufgabe. Sie müssen auch dann Antworten liefern, wenn die Kinder noch gar nicht auf die Idee gekommen sind, bestimmte Fragen zu stellen. Durch das Hinzulernen neuer Dinge wächst in Kindern die Fähigkeit, sich selbst eine Meinung zu bilden und Dinge herzuleiten.  


Bei den Kinderrechten allerdings werden die Kinder in Deutschland weitgehend im Regen stehen gelassen. Kinderrechte haben in der Schule keinen Platz, sie werden nicht unterrichtet, sondern bestenfalls angeschnitten, wenn eine Lehrkraft das Bedürfnis verspürt (wobei allein das nicht ausreicht, denn wenn der Lehrplan das Thema Kinderrechte nicht hergibt, sind den meisten Lehrkräften die Hände gebunden).
Es wird also Zeit, die Kinderrechte ernst zu nehmen und das Augenmerk auf die speziellen Bedürfnisse der Kinder zu richten. Und es wird Zeit, mit Kindern über genau diese Rechte zu sprechen, ihnen klarzumachen, dass es sie gibt.


Letztlich ist die Stärkung von Kinderrechten im Sinne aller Beteiligten. Der Soziologe, Psychologe und Pädagoge Professor Dr. Jörg Maywald bringt es gut auf den Punkt, wenn er sagt: „Ein Kind, das weiß, dass es Rechte hat und ermutigt wird, seine Meinung zu sagen, ist allein dadurch schon besser geschützt.“ Das ist nicht nur als Schutzmaßnahme zu verstehen, sondern auch als eine, die zu besseren Leistungen führt. Denn, so Maywald, „Kinder, die sich einbringen können, sind die besseren, neugierigeren Lerner.“
Klingt eigentlich ziemlich logisch. Umso unlogischer und unverzeihlicher ist der unverantwortliche Umgang mit dem Thema Kinderrechte.

 


Jörg Wellbrock, November 2014