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Angeboren, anerzogen – nachgelebt?

Das Bonner Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) hat zwei Studien veröffentlicht, aus denen hervorgeht, dass die geringere Risikobereitschaft von Frauen nicht angeboren, sondern anerzogen ist. Angesichts dieser Tatsache stellt sich die Frage: Welche Eigenschaften des Menschen sind eigentlich tatsächlich durch die Gene oder das Geschlecht festgelegt?

Neugier, Abenteuerlust, Fürsorglichkeit, Intelligenz – all das sind erstrebenswerte Eigenschaften, die Eltern ihren Kindern mitgeben wollen. In wie weit man erzieherisch auf derartige Persönlichkeitsmerkmale Einfluss nehmen kann, ist bis heute nicht vollständig erforscht.

Sind Menschen Produkte ihrer Erziehung oder Opfer ihrer Gene?

Einer der ersten, der sich diese Frage stellte, war der Biologe Sir Francis Galton (übrigens ein Cousin von Charles Darwin). Er beschäftigte sich zum Ende des 19. Jahrhunderts als erster mit Zwillingsforschung und kam nach einer Studie mit 80 Zwillingspärchen zu dem Schluss, dass sich die Gene gegen die äußeren Einflüsse durchsetzen. Der Verhaltensgenetiker Thomas Bouchard, der sich an der Universität von Minnesota ebenfalls mit Zwillingsforschung beschäftigt, sieht die genetischen Anlagen als Optionen, die je nach äußeren Einflüssen genutzt werden oder eben nicht. Dies lässt sich zum Beispiel im Bereich der Talente nachvollziehen: Wird ein musikalisches Kind von den Eltern gefördert, kann es ein berühmter Musiker, Komponist oder Dirigent werden. Wird diese Begabung ignoriert, singt der Nachwuchs höchstens im Kirchenchor mit.

Einen „Beweis“, dass sich Gene doch gegen die äußeren Einflüsse durchsetzen, liefert Thomas Bouchard mit folgender Beobachtung an getrennt aufwachsenden eineiigen Zwillingen: Trotz anderer Familienverhältnisse und abweichender Sozialisation verhalten und handeln die Zwillinge ähnlich. Dies kann bis zum Hochzeitstermin, dem Namen des Ehepartners und der Anzahl der Kinder reichen. Studien anderer Forscher haben diese Ergebnisse bestätigt. Also ist der Mensch doch weitgehend durch seine Gene gesteuert?

Forschungen in anderer Richtung haben die Dominanz der Gene für die Bildung der Persönlichkeit allerdings nochmals relativiert. Bei der Beobachtung von zwei Gruppen, von denen die eine aus gehemmten und schüchternen und die andere aus abenteuerlustigen und kontaktfreudigen Babys bestand, zeigte sich, dass auch viele schüchterne Babys aus sich herausgehen, wenn die Eltern sie entsprechend behandeln und erziehen: Erfuhren zurückhaltende Babys viel Aufmerksamkeit und Ermutigung, dann legten sie im Laufe ihrer Entwicklung ihre Schüchternheit immer mehr ab.

Geschlechterrollen – abgeguckt oder angeboren?

Ein besonders heiß diskutiertes Thema ist die Festlegung auf die Geschlechterrollen. Ist der Frau die Mutterliebe angeboren und dem Mann die Aggression?

Dass es Unterschiede zwischen Junge und Mädchen gibt, die weit über die primären Geschlechtsmerkmale hinausgehen, ist unstrittig. Das wissen Forscher ebenso wie Eltern, die ihr Kind täglich erleben. Schon im Mutterleib zappeln Jungs mehr als Mädchen. Nach der Geburt lässt sich feststellen, dass männliche Säuglinge mehr Interesse an abstrakten Bildern haben als an Gesichtern – bei den Mädchen ist es genau andersherum. Daraus wurde die Schlussfolgerung gezogen, dass sich Frauen mehr für Gefühle interessieren, Männer dagegen mehr Interesse an Technik, Mathematik, Naturwissenschaften und anderen abstrakten Themen haben. Mädchen entwickeln sich schneller, sie reden früher, sind feinmotorisch geschickter und sozialer im Umgang mit anderen. Jungs raufen gern, sind abenteuerlustig und konkurrieren häufiger als Mädchen. Das sind nur einige wenige Beispiele, wie unterschiedlich sich Jungen und Mädchen  von Anfang an entwickeln. Zum Teil ist dies hormonell bedingt und das macht auch Sinn. Denn rein biologisch gesehen erfüllen Mann und Frau ganz bestimmte Aufgaben zur Erhaltung der Art und müssen also auch über die entsprechenden Eigenschaften verfügen.

Wer nun allerdings die genetischen Unterschiede als Argument nimmt, dass Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern nicht möglich sei, vergisst eines: Der Mensch ist ein hochintelligentes, wandlungsfähiges Wesen, das zwar genetisch vorgeprägt, aber keinesfalls genetisch festgelegt ist. Auch Mädchen können technische Berufe lernen, die Zahl der Hausmänner steigt immer mehr. Für die Erziehung bedeutet dies, dass man Kindern möglichst viele Anregungen bieten sollte, um ihnen die Chance zu geben, sich nach ihren Neigungen und Talenten zu entwickeln. Allerdings sollte man ihnen auch auf jeden Fall ermöglichen, eine eigene Geschlechteridentität zu entwickeln. Dazu gehört eine konsequente und liebevolle Erziehung mit Eltern, die Vorbild sein können – ein Junge braucht eine Vaterfigur, eine Tochter eine Mutter, an der sie sich orientieren kann. Fehlt ein Elternteil, dann fehlt ein Anhaltspunkt für das Kind. Alleinerziehende Eltern sollten deshalb darauf achten, dass ihr Kind einen „Ersatz“ bekommt, also eine enge Bindung zu einer Person aufbaut, die zwar nicht das fehlende Elternteil ersetzt, aber trotzdem eine Rolle als Vorbild übernehmen kann. Dies kann ein Pate oder eine Patin sein, aber auch der Onkel, die Tante oder der beste Freund des erziehenden Elternteils.

Erziehung und Gene gehen Hand in Hand

Erziehung und genetische Anlagen spielen nach Meinung vieler Experten gleichermaßen eine wichtige Rolle bei der Charakter- und Persönlichkeitsentwicklung und auch bei der Ausbildung von Fähigkeiten und Talenten. Wenn ein Kind nicht die Anlage zum Sportgenie hat, dann wird es auch durch noch so viel Training nicht zum Weltmeister. Allerdings kann aus ihm durchaus ein sportlicher und körperbewusster Mensch werden, wenn die Eltern dies fördern und vorleben. Die unumstrittene Meinung anerkannter Erziehungswissenschaftler, Genetiker und Biologen ist heute, dass sich Gene und Umwelt zu gleichen Teilen gegenseitig ergänzen, stärken oder schwächen – je nachdem, welchen Einflüssen ein Kind ausgesetzt ist und auf welche genetische Veranlagung diese treffen.