„Nina, kommst du bitte!! Es ist schon fünf vor halb neun!“ So oder so ähnlich versuchen Väter allmorgendlich Töchter und Söhne auf Trab zu bringen, wenn sie ihre Steppkes vor der Arbeit noch in den Kindergarten bringen müssen. Warum sich Eltern den zweiten Teil dieser Aufforderung auf jeden Fall sparen können, erklären wir Ihnen hier.
Zeitlos glücklich – Kinder leben im Hier und Jetzt
Uns Erwachsene regiert die Uhr. Um sieben klingelt der Wecker. Um neun muss Mann im Büro sein. Um drei ist das wichtige Meeting. Um Punkt sieben gibt es Abendessen. Und um acht Uhr sollte das Kind im Bett sein. Man hat Zeit, es bleibt Zeit und es vergeht Zeit. Die Zeit ist essentiell für uns, denn sie strukturiert alles – unseren Tag, unsere Mahlzeiten, unsere Wege, unseren Schlaf, unser ganzes Leben.
Was nun, wenn es Wesen gibt, die mit diesem Begriff Zeit so rein gar nichts anfangen können? Die Welt würde ins vermeintliche Chaos stürzen.
Zeit ist Raum
Und genau das passiert uns Tag für Tag im Zusammenleben mit kleinen Kindern. Auf der einen Seite die pragmatischen Erwachsenen, die sich manchmal wohl, manchmal übel an strikte Zeitpläne halten müssen. Und auf der anderen Seite kleine Kinder, die mit diesem abstrakten Wort Zeit rein gar nichts anfangen können. Denen es vollkommen egal ist, ob der kleine Zeiger auf der fünf oder auf der zwölf ist.
Für kleine Kinder ist alles nur Raum. Ein großer Ort, an dem sie leben, der aus vielen aneinander gereihten Momenten besteht und der viele Jetzt-Augenblicke vereint. Ein Ort, an dem es nicht zählt, dass Eltern die Kinder auf morgen vertrösten. Denn was soll das schon sein: morgen? Die sich dazu gesellende Hektik („Komm’ jetzt bitte, es wird höchste Zeit! Wir sind eh schon so spät dran!“) ist Kindern demnach vollkommen unverständlich - und der damit einhergehende Ärger, wenn dieser Plan nicht eingehalten wird, ebenso.
Das Leben ohne die grauen Herren
Diese so genannte Momentzentriertheit bei Kindern ist Erwachsenen oft lästig. Dabei ist es ein einzigartiges Wunder. Gestresste, im Arbeitsalltag und Zeitdruck gefangene Väter tun gut daran, sich bisweilen auf dieses Wunder einzulassen. Gehen Sie jetzt im Herbst einmal mit Ihrem Kind spazieren und lassen Sie Sohn oder Tochter das Tempo bestimmen. Sie werden sich vorkommen wie in Michael Endes „Momo“. In dieser bekannten Parabel geht es genau um das: unsere rastlose Zeit und wie wir ihr Einhalt gebieten können. So ein Spaziergang mit ihrem 2- oder 3-jährigen Stöpsel kann gerne mehrere Stunden andauern. Und Sie werden wahrscheinlich nicht weiter als 50 Meter kommen. Aber Sie werden auf dieser Wanderung Dinge entdecken, die Sie noch nie gesehen haben. Sie werden am Ende keine Zeit verschwendet haben. Denn das war nicht Trödeln, das war Zeit nehmen.
Das Jetzt als Geschenk
Dieses Leben im Hier und Jetzt birgt so viele Vorteile und Geschenke, von denen wir Erwachsene nur profitieren und lernen können. Gerade noch weint das Kind, weil es das Eis nicht bekommen hat, im nächsten Augenblick strahlt es schon wieder über das ganze Gesicht, weil es ein Eichhörnchen gesehen hat. Eis? Das war. Jetzt ist Eichhörnchen. So einfach ist das.
Vor wenigen Augenblicken streiten sich zwei Mädchen im Kindergarten noch um eine Puppe und im nächsten Moment sitzen sie friedlich aneinander gekuschelt auf der Couch und schauen sich gemeinsam ein Buch an. Streit? Puppe? Einfach gelöscht. Weil nicht jetzt.
Überfordern Sie Ihr Kind nicht!
Diese Unfähigkeit zur Depression, zum nachtragenden Sein, zum stundenlangen Ärger ist eine Gabe, die wir ab einem gewissen Alter (leider) verlernen. Außer Kindern haben diese Gabe vielleicht noch ein paar Buddhisten in verwunschenen Klöstern im Himalaya-Gebirge. Aber in unserer westlichen Welt, in der Züge um 7:38 Uhr abfahren und die Nachrichten um Punkt 20:00 Uhr beginnen, scheint kaum die Chance auf Momentzentriertheit zu bestehen.
Vor allem in Stress- oder Extremsituationen müssen Eltern da ganz besonders acht geben, Kinder in ihrem Zeitbegriff nicht zu überfordern. Bei einer Trennung oder Scheidung ein vierjähriges Kind zu fragen, bei wem es bleiben will, ist fatal. Es kann keine zukunftsorientierte Entscheidung treffen. Es kennt nicht die Realität von übermorgen.
Lassen Sie sich Zeit
Keine Angst vor der Zukunft. Kein Gram über die Vergangenheit. Das ist die Welt in der Kinder leben. Eine Welt, die sie jeden Moment überrascht, beglückt oder traurig macht. In diesem einen Augenblick. Wir Erwachsene haben die Verantwortung und die Pflicht, diesen Zustand so weit wie möglich zu akzeptieren. Auch wenn es uns schwer fällt.
Wenn Sie also das nächste Mal an der Ampel stehen und es schon zum dritten Mal grün wird, Ihr Kind aber noch weitere vier Grünphasen fasziniert einen Glitzeraufkleber am Ampelmast unter die Lupe nehmen will, schauen Sie nicht ständig auf die Uhr. Beobachten Sie in der Zwischenzeit den Himmel, den Glitzeraufkleber oder Ihr Kind, das Ihnen dieses herrliche Momentgeschenk macht.