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Raupe Nimmersatt rückwärts – wie Kinder durch Geschichten Zusammenhänge verstehen lernen

Kleinkinder verstehen noch keine komplexen Handlungsstränge. Warum sie es trotzdem genießen, Geschichten zu hören – und wie sie davon profitieren.

 

Wahrscheinlich sind es die Löcher. Apfel, Birnen, Pflaumen, alle haben Löcher. Meinen Sohn hat das von Anfang an fasziniert. Die kleine Raupe Nimmersatt frisst sich durch Früchte - als erstes durch einen großen Apfel, zurück bleibt ein Apfel mit Loch. Am nächsten Tag stehen zwei Birnen auf der Speisekarte, am dritten Tag drei Pflaumen. Jedes Stück Obst bekommt ein Raupenloch. Immer mehr steckt das Tier weg, Erdbeeren, Apfelsinen, ein Würstchen und am Ende ein grünes Blatt. Die Raupe wird immer dicker, und dann ist sie endlich satt, sie spinnt sich in einen Kokon und nach zwei Wochen folgt der Höhepunkt: Es schlüpft ein wunderschöner Schmetterling.

Der deutsch-amerikanische Kinderbuchautor Eric Carle hat sich diese Geschichte ausgedacht, und mein Sohn war begeistert, von Anfang an. „Die kleine Raupe Nimmersatt“ ist eines seiner Lieblingsbücher geworden – aber das liegt wohl weniger an der Geschichte, sondern an den Löchern.

 

„Die Pflaumen haben Löcher!“

Als ich meinem Sohn zum ersten Mal „Die kleine Raupe Nimmersatt“ vorlas, war er knapp drei Jahre alt, seine Finger passten genau in die kleinen, in die Früchte gestanzten Löcher. Was für ein Buch: Die Lektüre war für ihn ein Erlebnis zum Anfassen. Und nachdem wir das Buch zu Ende durchgesehen hatten, lief mein Sohn zu meiner Frau – und erzählte ihr alles, und zwar ganz genau. Zumindest dachte er das. Denn tatsächlich klang die Geschichte nun etwas anders.

Das Blatt sei kaputt, war das erste, was er sagte. Und: Die Pflaumen haben Löcher! Der Schmetterling sei eine Raupe, und diese Raupe habe Löcher in die Pflaumen gefuttert. Im Grunde erzählte er die Geschichte von hinten nach vorne. Dann wurde es etwas kompliziert: Die Birnen seien grün, und die Raupe auch, nur der Kopf sei rot wie der Apfel. Und die Fühler blau wie die Pflaumen. Die übergreifende Handlung dagegen war ihm nicht der Rede wert.

 

Kleinkinder verstehen noch keine Handlungsstränge

Nun ist mein Sohn kein Sonderling, der sich nichts aus der Handlung einer Geschichte macht, sondern ein ganz normales Kleinkind – und wie andere Kleinkinder auch versteht er zwar, was passiert, aber noch nicht, warum und mit welchem Ziel. Komplexe Handlungszusammenhänge sind ihm fremd. Seine Aufmerksamkeitsspanne ist begrenzt, der Anfang einer Geschichte ist ihm an deren Ende nicht mehr unbedingt präsent. Vorgelesene Geschichten nimmt er episodisch wahr, er konzentriert sich auf Details wie die Löcher in den Pflaumen. Wen kümmert da schon ein chronologischer Handlungsablauf?

Verstehen ist ein aktiver und komplexer Prozess, den Kinder erst mit der Zeit erlernen. Er lässt sich in drei Schritte gliedern, so die Entwicklungspsychologie. Zu Beginn steht das unmittelbare Verstehen von Wörtern und Sätzen: Die Raupe, der Apfel, erstere frisst sich durch letzteren. Auf dieser Grundlage entsteht in einem zweiten Schritt ein Modell der Situation: Ist die Rede von einer Ente, gehören dazu etwa Assoziationen vom Schwimmen, Schnattern und Flattern. Bei einer Raupe gehört dazu vielleicht schlicht Kriechen und Fressen. Erst im letzten Schritt aber werden diese Muster zu einer echten Geschichte verknüpft. Dazu sind Erfahrung und kindliche Erlebnisse notwendig. Die Raupe Nimmersatt futtert sich durch Früchte, damit sie zum Schmetterling werden kann. Wann ein Kind zu diesem letzten Schritt in der Lage sind, ist individuell verschieden, in der Regel ist es im Vorschulalter so weit.

 

Die Frage nach dem Warum

Das erste, was Kinder fortan verstehen und was an die Handlung einer Geschichte erinnert, sind typische Abläufe, zum Beispiel des gemeinsamen Mittagessens: Alle müssen ihre Hände waschen, dann stellen die Eltern Essen auf den Tisch, die Kinder bekommen Besteck und essen oder sie werden gefüttert, am Ende stehen alle wieder auf. Kinder verstehen, dass diese Ereignisse zusammengehören – auch wenn sie zunächst noch nicht die Frage nach dem Warum stellen. Wird in einer Geschichte von einem Mittagessen erzählt, vollziehen sie die Abläufe mit. Und auch wenn sie die Abläufe noch nicht begründen, also das Wesentliche noch nicht erfassen können: Wird vom gewohnten Muster abgewichen, reagieren sie irritiert.

Beim Vorlesen zeigt sich das zum Beispiel darin, dass sich Kinder am Wortlaut einer Geschichte orientieren. Wer seinen Kindern ein Märchen erzählt und meint, er könne unbemerkt ein paar Zeilen abkürzen, riskiert Protest – auch wenn das Ausgelassene für die Handlung des Märchens unwesentlich ist. Die Frage nach diesem Wesentlichen, nach dem Warum, tritt erst später dazu – und dann, noch etwas später, die Frage nach Zielen und das Verständnis von Problemen, also von eben den Elementen, aus denen Geschichten entstehen. 

Kinder reagieren fortan nicht mehr mit Unverständnis auf Komplikationen, sondern mit Interesse, ob nun die Seife zum Händewaschen fehlt oder das Mittagessen angebrannt ist. Gleichzeitig beginnen sie, Personen als bewusst und zielgerichtet Handelnde wahrzunehmen: Sie haben ein Ziel und auf dem Weg dorthin lösen sie Probleme. Kinder beginnen, Personen zu verstehen. Und sie begreifen fortan immer kompliziertere Zusammenhänge. Dieser Prozess ist im Grunde nie abgeschlossen, er verfeinert sich immer weiter und bis ins Erwachsenenalter hinein, mit zunehmenden Sprachfertigkeiten und zunehmendem Wissen über die Welt.

 

Kinder lieben Geschichten

Deswegen sollte man aber nicht mit dem Geschichtenerzählen warten, bis Kinder wirklich alle Zusammenhänge begreifen können. Kinder lieben Geschichten, und es ist ihnen egal, ob das große Ganze stimmt, sie genießen auch die Details. Zudem prägen Geschichten die Art und Weise, wie Kinder die Welt sehen. Sie thematisieren moralische Regeln und verleihen der Wirklichkeit für Kinder ein Stück weit Sinn. So können Kinder sich und ihre eigenen Gefühle in den erzählten Geschichten wiederfinden – und auf diese Weise lernen, ihre Emotionen und ihre eigenen Erlebnisse einzuordnen. Daneben fördern Geschichten den Wortschatz und die Sprachkompetenz. Sie regen die Fantasie an, fördern Konzentrationsvermögen und Gedächtnis. Und sie schaffen ein Zusammengehörigkeitsgefühl: Du erzählst mir eine Geschichte, Du gehörst zu mir. Kinder lieben Geschichten – und es ist wichtig, sie ihnen zu erzählen.

Meine Tochter ist inzwischen knapp zwei Jahre alt, auch sie liebt die Raupe Nimmersatt – obwohl auch sie sich noch nichts aus den großen Zusammenhängen macht. Ihr Favorit ist, wie sollte es anders sein, der Schokoladenkuchen. Genauer: das Loch im Schokoladenkuchen.

 

 

Zum Weiterlesen

http://www.br-online.de/jugend/izi/deutsch/publikation/televizion/25_2012_2.htm