„Das kann ich doch schon allein!“ So lautet die Devise unserer Kinder ab dem zweiten Lebensjahr. Eine mitunter strapaziöse Zeit für uns Eltern. Doch die ersten selbstständigen Versuche unseres Nachwuchses sind immens wichtig. Denn nur so lernen schon die Kleinsten, mit den künftigen Herausforderungen des Lebens zurechtzukommen und ein immer größeres Verständnis für ihre Umwelt zu entwickeln. Wie Sie Ihre Kinder dabei unterstützen können, soll heute unser Thema sein.
Allein Allein – Wenn Kinder selbstständig werden
Wenn mein Sohn allein die Straße überqueren oder mit halsbrecherischen Klettermanövern die Spielplätze unsicher machen möchte, dann fällt er oft, dieser Satz: „Ich kann das allein!“ Nicht selten mit dem Zusatz: „Ich bin doch schon groß!“
Doch das ist derselbe Dreijährige, der noch vor wenigen Tagen ein neues Muster in unsere Wohnzimmergardinen geschnitten hat und erst gestern seine Taschenlampe ins Aquarium warf. Angeblich, damit die Fische besser sehen können.
Natürlich bin ich froh, dass mein Nachwuchs zunehmend selbstständiger wird. Doch dieser Stolz vermischt sich oft mit Sorge. Und manchmal etwas Ratlosigkeit.
Soll ich ihn etwas alleine machen lassen, wohl wissend, dass mein Sohn eigentlich noch zu jung dafür ist? Oder lieber verhindern, weil ich es ihm schlicht nicht zutraue? Vielleicht doch versuchen lassen und ihm dabei hilfreich zur Hand gehen, um die Risiken zu minimieren, jedoch auf die Gefahr hin, dass er in seinem Selbstvertrauen und seiner Motivation gebremst wird?
Auf die Eltern kommt es an
Vieles habe ich darüber gehört und gelesen. Und heute weiß ich, dass es wie fast immer im Leben ist: Ein Universalrezept gibt es nicht. Aber mit etwas Bauchgefühl und einer Portion Risikobereitschaft findet sich ein gesunder Mittelweg.
Denn niemand kennt unsere Kinder so gut wie wir, die Eltern. Nicht die Großeltern, nicht die besten Freunde und schon gar nicht diverse Erziehungsratgeber. Nur wir haben die Entwicklung unserer Kinder ganz genau vor Augen. Tag für Tag.
Wann ein Kind sich alleine anziehen, ein Glas Milch einschenken oder zur Toilette gehen kann, lässt sich nie an einem festen Zeitpunkt festmachen. Wichtig ist allein der Entwicklungsstand unserer Kinder. Und nicht das Alter.
Daher gilt es genau abzuwägen, ob ein Kind tatsächlich noch viel zu klein für dieses und jenes ist, nur weil andere in diesem Alter es sind oder waren. Wichtig ist nur, dass unsere Kinder es sich selbst zutrauen. Darum sollten wir auch umgekehrt nie darauf bestehen, dass das Kind in einem gewissen Alter schon das eine oder andere können oder sich zutrauen muss - nur, weil andere Kinder schon dazu in der Lage sind.
Theorie und Praxis
Damit wäre eigentlich alles gesagt, doch unser Alltag sieht oft ganz anders aus.
Ein kleines Beispiel: Mein Sohn bestand eines Tages darauf, sich selbst die Schuhe anzuziehen. „Ich schon groß sein“ – das war seine logische Begründung. Lobenswert, keine Frage. Allerdings dauerten seine Versuche immer eine halbe Ewigkeit. Und gerade früh, wenn die Zeit drängt, ist das mehr als hinderlich. Also übernahmen wir das für ihn, natürlich unter seinem lautstarken Protest, der nicht selten mit Tränen endete. Er war frustriert, denn sein Drang nach Unabhängigkeit hatte einen empfindlichen Dämpfer bekommen. Irgendwann gab er auf. Er setzte sich einfach hin und wartete, dass wir ihm wieder zur Hand gehen.
Schon dieses kleine Beispiel zeigt, wie schnell sich Kinder in diesem Alter entmutigen lassen und von einer aktiven in eine passive Rolle wechseln.
Das Anziehen klappt nun schnell, denn wir haben es geübt. Und zwar am Nachmittag. Ohne Zeitdruck.
Beständig selbstständig
Kinder wollen selbstständig sein, das liegt in der Natur der Sache. Immerhin können sie bis zu 300 neue Informationen pro Tag verarbeiten. Doch wirklich weiter kommen Kinder in ihrer individuellen Entwicklung nur, wenn sie die meisten Probleme, auf die sie stoßen, selbst lösen können und dürfen. Kinder, denen jede Entscheidung abgenommen wird, können nicht selbstständig werden.
Unsere Kinder wissen selbst am besten, wann sie reif genug sind, das Fahrradfahren zu lernen, auf Bäume zu klettern und noch vieles andere mehr. Selbstverständlich sind Lernziele wichtig. Doch werden sie nur von uns vorgegeben, verlässt sich unser Nachwuchs immer weniger auf seine Neugier. Kinder werden (selbst)sicherer, wenn sie sich selbst Ziele setzen. Und diese auch zu verfolgen und zu erreichen lernen.
Lob und Vertrauen
Natürlich gehören dazu auch Niederlagen, denn unsere Kinder testen ständig ihre Grenzen aus. Das Letzte, was sie dann hören wollen, sind Vorwürfe. Auch ich habe mich schon des Öfteren dabei ertappt, wie ich meinem Sohn kleine Vorhaltungen gemacht habe. Nicht mit Vorsatz, sondern ganz automatisch. Etwa in der Art: „Hättest du auf mich gehört, wärst du beim Klettern nicht heruntergefallen.“ Solche Aussagen machen Kinder mutlos. Und traurig. Besser wäre: „Nicht schlimm, das kann passieren. Versuch’s noch einmal. Dann klappt es bestimmt.“
Neben unerschöpflicher Liebe sollten Lob, Anerkennung und Vertrauen ein wesentlicher Bestandteil der Erziehung unserer Kinder sein. Denn unser Nachwuchs braucht das wie die Luft zum Atmen. Auch wenn sie etwas nicht gleich beim ersten, zweiten oder dritten Mal schaffen, sollten die Kinder immer das Gefühl haben, dass Mama und Papa hinter ihnen stehen und stolz sind. Und ein Teilerfolg lässt sich doch fast immer ausmachen. Oder?
Natürlich bedarf es dazu sehr oft einer gewissen elterlichen Gelassenheit. Doch gerade diese Gelassenheit ist es, die unseren Kindern zu verstehen gibt, dass wir uns nicht aufdrängen und den Oberlehrer spielen, wohl aber jederzeit mit Rat und Tat zur Verfügung stehen, wenn es Hilfe braucht. Und so akzeptiert das Kind auch leichter die Grenzen, die wir als Eltern manchmal setzen müssen.
Der erste Schritt
Höflichkeit, Ehrlichkeit, Durchsetzungsvermögen … Wir haben viele wichtige Erziehungsziele. Doch manchmal vergessen wir, dass auch die Selbstständigkeit unserer Kinder ein wichtiger Teil davon ist. Diese stellt sich nicht mit einem bestimmten Alter automatisch ein, sondern ist die Folge eines langen Lernprozesses, der in frühester Kindheit beginnt und sich aus vielen kleinen Etappen zusammensetzt. Und der erste Schritt auf dieser Reise dahin beginnt für unsere Kinder meist mit dem Satz: „Ich kann das allein, denn ich bin schon groß.“
Ich freue mich darauf, dass ich meinen Sohn auf seinem Weg begleiten darf und wir noch so viele kleine und große Schritte gemeinsam gehen werden. Seite an Seite.
Der Autor:
Daniel Polzer arbeitet als freiberuflicher Texter und Werbetexter.
Mit seiner Frau und seinen beiden Kindern lebt er in Leipzig.