Ein Kind spricht das aus, was ihm durch den Kopf geht. Ganz egal, wie das auf die betroffene Person wirken könnte. Autor Nils Pickert berichtet von den Erlebnissen mit seinem Sohn, der seine Meinung ungefiltert kundtut..
Kindermund tut Wahrheit kund – für Eltern oft eine Herausforderung
„Wenn ich so dick wie du wäre, würde ich mich nicht auf das Motorrad setzen, das kippt doch um!“ sagt mein sechsjähriger Sohn zu dem beleibten, bärtigen Mann und schüttelt den Kopf. Mein Kopf läuft derweil rot an und ich gebe mir ehrlich Mühe, so schnell wie möglich im Boden zu versinken. Zum einen, weil es mir wirklich peinlich ist, dass meinem Jungen nicht auffällt, wie er gerade eine Grenze überschritten hat. Der Biker mag zwar in seinen besten Jahren sein und robust wirken, aber das war doch ziemlich verletzend. Zum anderen habe ich in dem Moment, als mein Junge es gesagt hat, genau das gleiche gedacht. Und um ganz ehrlich zu sein: mir wäre etwas noch viel Unfreundlicheres herausgerutscht, aber ich konnte mir eben gerade noch auf die Zunge beißen.
Die Worte fallen ungefiltert aus dem Mund
Mein kleiner Kerl macht das nicht. Bei ihm scheint alles, was er denkt, ungebremst und ohne jeden Filter einfach so aus seinem Mund zu fallen. Wenn ich ihm etwas besonders Spannendes vorlese, untermalt er es mit beatboxartigen Kampfgeräuschen. Wenn er versucht mich zu fangen, brüllt er manchmal aus vollem Hals „Du Elender!“ und kann dann vor Lachen nicht mehr weiterlaufen. Und wenn ich ihn abends ins Bett bringe, sagt er mir, dass er mich lieb hat.
Scham oder Rührung – ganz nach Situation
Wofür ich also so manches Mal vor Scham in den Boden versinke, treibt mir bei anderer Gelegenheit vor Rührung die Tränen in die Augen. Das Problem besteht darin, das der Grund dafür in jedem Fall der gleiche ist: der Kerl sagt einfach, was er fühlt und denkt. Nur wirkt das, wenn er Bettler in einer Fußgängerzone fragt, woher sie kommen, warum sie arm sind und ob sie uns nicht mal besuchen wollen, distanzlos. Und wenn er seiner Schwester sagt, dass er sie toll findet und wieder mal bei ihr im Zimmer übernachten will, wirkt es unverstellt und liebevoll. Der Unterschied liegt also an den Adressaten und daran, was genau mein Sohn sagt. Für mich mag das problematisch sein. Für ihn stellt sich das jedoch ziemlich einfach da. Er sagt einfach nur, was für ihn Sache ist.
Oft reagieren Eltern wenig souverän
Zum Beispiel hat er, als wir uns letzten Herbst eine Schule für ihn angeschaut haben, der uns freundlicherweise begleitenden Lehrerin unmissverständlich klargemacht: „Hier stinkt es fürchterlich.“ Andererseits hat er sie auch wissen lassen, dass ihm ihre kurzen Haare gefallen.
Ich reagiere daraufhin immer gleich: Ausgesprochen unsouverän und mit besagtem rotem Kopf versuche ich ihm hinter dem Rücken der Betreffenden pantomimisch klarzumachen, dass er zu weit gegangen ist. Und weil sich mein Sohn dann Sorgen darüber macht, ob irgendetwas mit meinem Gesicht nicht stimmt, dürfen Sie mal raten, was passiert. Ganz genau: Er drückt lautstark seine Besorgnis aus.
Wer muss hier etwas dazulernen?
Nach solchen Ereignissen versuche ich meistens, ihm ein paar Dinge zu erklären. Zum Beispiel den Unterschied zwischen öffentlich und privat oder zwischen Kompliment und Beleidigung. Dann hört er 2 Minuten interessiert zu, verdreht anschließend die Augen und sagt: „Papa, du nervst!“ Ich gebe ihm dann im Stillen recht und bemühe mich, nicht darüber zu lachen. Ist ja eine ernste Angelegenheit. Wir haben also wohl beide noch ein bisschen Arbeit vor uns.
Nils Pickert, Jahrgang 1979, gebürtiger (Ost-)Berliner, lebt und arbeitet als freier Autor und Texter in Norddeutschland. Er ist passionierter Koch und Vater zweier Kinder.