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Papa, warum hat der Mann keine Beine? – Kinder und der Umgang mit Menschen mit Behinderung

Gerade im Kindergartenalter kennt die Neugier der Kleinen keine Grenzen. Jedes für sie neue Phänomen wird mit einer sofortigen „Warum“-Frage quittiert. Doch wie geht man als Elternteil damit um, wenn es um Fragen bezüglich Menschen mit körperlichen oder geistigen Handicaps geht?

Ein blinder Mann mit Stock an der Ampel oder eine junge Frau im Rollstuhl – für uns Erwachsene stellen Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen kein Novum mehr dar. Wie führt man aber mit seinen Kindern Gespräche über Menschen mit Behinderungen?


Unangenehm? Bitte nicht!

Man kennt die Situation als Elternteil: Beim sonntäglichen Spaziergang trifft man im Park auf eine Rollstuhlfahrerin, ein Kind mit Down-Syndrom sitzt im Cafe am Nebentisch oder man passiert einen Bettler mit nur einem Bein. Das eigene Kind bekommt große Augen, dreht sich nach diesem „besonderen“ Menschen um und stellt Fragen wie „Mama, warum hat der nur ein Bein?“ oder „Papa, was ist denn mit dem Gesicht von dem Kind los?“. Uns Erwachsenen sind solche Situationen unangenehm. Wurde uns in der Kindheit doch selbst auch immer wieder eingeimpft, man gucke behinderten Menschen nicht hinterher. Und stelle schon gar nicht so indiskrete Fragen.

Aus Rücksicht auf die gehandicapten Menschen glauben wir, dass Fragen nach dem Warum und das ungenierte Schauen den Behinderten unangenehm sein könnte. Und ganz abgesehen davon: Auf eine Frage sollte man den Kindern ja eine Antwort geben. Womöglich eine, die der Wahrheit auch recht nahe kommt. Und was antwortet man seinem Sprössling auf die Frage „Du Papa, wieso kann der Mann nix sehen?“, wenn dieser in der U-Bahn direkt neben einem steht? Peinlich ist das doch. Oder?


Entziehen Sie sich nicht den Fragen

Gehen Sie dem Gespräch mit Ihrem Kind nicht aus dem Weg. Eine Tabuisierung stigmatisiert Menschen mit Behinderungen nur noch mehr. Wenn Ihr Kind das erste Mal Interesse an den offensichtlichen „Unterschieden“ zeigt, dann sollten Sie das als Anlass nehmen, um mit Ihrem Sohn oder Ihrer Tochter ein Gespräch über das „Anders sein“ zu führen. Erläutern Sie ganz direkt, dass Menschen verschieden sind – dass der eine braune Haare hat und der andere blonde, dass wir eine eher helle Hautfarbe haben und der Präsident der USA eine dunklere. Genau so anders – aber deswegen nicht weniger wert – ist das Mädchen, das nichts sehen kann oder der Junge, der ein Hörgerät trägt. Kinder können mit Begriffen wie Akzeptanz oder Integration noch nichts anfangen. Aus diesem Grund gilt es, den Kindern genau diese Werte in einfachen Bildern und Metaphern nahe zu bringen.


Keine langatmigen Antworten

Dabei ist es nicht entscheidend, dass Sie in Ihren Antworten ausufernd werden. Ein halbstündiger Vortrag über Menschen mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen überfordert Ihre Kinder und macht auch keinen Sinn. Wenn Ihr Sprössling also an der Bushaltestelle fragt, warum der Mann neben Ihnen einen Stock hat und drei Punkte auf der Armbinde, erklären Sie einfach, dass etwas mit seinen Augen nicht stimmt, er nichts sehen kann und er deshalb den Stock zur Hilfe nimmt. Nicht selten greift dann das „Subjekt der Neugierde“ selbst ein und hilft den bisweilen sprachlosen Eltern über diese Hürde hinweg, indem sie ganz offensiv mit den Fragen der Kinder umgehen und sie ohne Umschweife beantworten. Es ist nämlich mitnichten so, dass es behinderten Menschen unangenehm sein muss, wenn kleine Kinder nach der Ursache des Handicaps fragen.


Respekt ist entscheidend

Wenn Sie Fragen nach Beeinträchtigungen beantworten, achten Sie auf die richtige Ausdrucksweise. Kinder merken sich diese Dinge sehr genau und geben sie dann auch wieder. Das heißt, wenn in der Nachbarschaft ein Kind mit Down-Syndrom wohnt, sollten sie nicht über „das behinderte Kind“ sprechen. In erster Linie ist es nämlich ein Kind, das nicht als erstes und einziges Attribut „behindert“ ist. Es ist ja auch blond, dünn oder groß. Und hat außerdem auch einen Namen, mit dem es angesprochen werden sollte.

Respekt ist etwas, dass Sie Ihrem Kind nicht unbedingt beibringen, aber vorleben können. Sollte Ihr Sohn oder Ihre Tochter also ein anderes Kind mit Behinderung als „komisch“ oder „seltsam“ betiteln, dann sollten Sie unbedingt erzieherisch wirken, indem Sie erklären, dass manche Äußerungen verletzend wirken können und niemand auf der Welt „komisch“ ist, weil er eine körperliche oder geistige Beeinträchtigung hat.


In integrativen Einrichtungen wird Offenheit vorgelebt

Die Beobachtung von behinderten Menschen kann Kinder oft tagelang beschäftigen. So kommen dann bisweilen erst viel später Fragen wie „Mama, kann ich auch ein Bein verlieren?“ oder „Wirst du auch blind?“. Seien Sie nicht um Antworten verlegen, aber schüren Sie auch keine Ängste. Erklären Sie Ihrem Kind, dass beispielsweise Menschen, die nicht sehen können dafür ganz besonders gut hören oder tasten können. Das kann man sogar in einem Spiel einbauen, um den Kindern die Welt des Nicht-Sehens nahe zu bringen.


Wenn Sie die Möglichkeit haben, bringen Sie Ihre Kinder mit anderen Kindern mit Behinderungen zusammen. Eine gute Möglichkeit dazu sind integrative Spielgruppen oder ein integrativer Kindergarten. Hier lernen die Kleinen von Anfang an ein offenes und unbeschwertes Miteinander mit gehandicapten Menschen. Denn: Gelebte Akzeptanz ohne Tabus ist eines der höchsten Güter, die Sie Ihrem Kind mit auf den Weg geben können.

 


Hier noch einige Buchtipps zum Thema:

"Unser Bruder mit Down-Syndrom"
von Jonathan Albin, Seubert, 1994


"Kathrin spricht mit den Augen: wie ein behindertes Kind lebt"
von Kathrin Lemler, Kevelaer, 1997


„Lukas ist wie Lukas“
von Dagmar H. Mueller, Ravensburger, 2006


„Meine Füße sind der Rollstuhl“
von Verena Ballhaus/Franz-Joseph Huainigg, Betz, 2003