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Raufende Kinder – ist das heute noch zeitgemäß?

Früher war es ganz normal, vor allem unter Jungs: Ließen sich Streitigkeiten nicht mit Worten klären, wurde auch mal kurz gerauft. Danach waren Aggressionen abgebaut, die Luft wieder sauber und das Spiel ging friedlich weiter. Wie sieht die Sache heute aus? Können Raufereien angesichts des steigenden Gewaltpotentials noch toleriert werden?

In vielen Kindertagesstätten ist Raufen tabu. Kein Wunder, würden sich die Kinder den ganzen Tag prügeln, dann bekämen es die ohnehin oft überforderten Erzieherinnen auch noch mit empörten Eltern zu tun. Also gehört es zu den unumstößlichen Regeln in Kita und Schule: Gerauft wird nicht. Wolfgang Bergmann, ein bekannter Erziehungswissenschaftler, hat dazu eine andere Meinung. Nach seiner Ansicht gehört die Konfliktklärung mit Körpereinsatz zu den „männlichen“ Eigenschaften – und die sollten ausgelebt werden.

 

Erziehung in Frauenhand

Der Anteil an Erzieherinnen vor allem in Kinderkrippen und Kindertagesstätten ist überwältigend. Nur etwa vier Prozent Kindergärtner gibt es im Durchschnitt in Deutschland. Dementsprechend ist auch die Erziehung und die Art des Umgangs in den Einrichtungen „weiblich“. Schlagen und Prügeln ist ein Tabu und meist generell verboten. Für die Mädchen in den Einrichtungen ist dies meist weitgehend ok, anders sieht es bei den Jungs aus – findet zumindest Wolfgang Beckmann. Er ist der Meinung, dass die männlichen Eigenschaften der Jungen wie etwa Aggression, die Lust am Laut sein und das ungehemmte Herumtoben in den von weiblicher Hand dominierten Kindergärten unterdrückt wird -und zwar von Anfang an. Das würde langfristig dazu führen, dass die Jungs ihre eigenen Bedürfnisse nicht mehr spüren oder sie zumindest nicht verstehen. Das Verbot, auch körperlich die Kräfte zu messen und sich einfach mal wie ein rüpeliger Kerl benehmen zu dürfen, wirkt sich auf die männliche Identität aus und zwar in dem Sinne, dass Anteile davon unterdrückt werden.

 

Das Zahnpastatuben-Prinzip

Wird etwas an einer Stelle unterdrückt, kommt es an anderer mit umso mehr Druck zum Vorschein. Das Zahnpastatuben-Prinzip kennen wir alle. Und so ist es durchaus möglich, dass die Unterdrückung der Aggression, der ein Kind tagsüber unterworfen ist, sich dann Bahn bricht, wenn die Regeln lockerer und der Einfluss der Erwachsenen geringer wird. Beckmann führt die zunehmende Gewalt unter Jugendlichen zum Teil darauf zurück, dass sie als Kind niemals ihrer Kraft freien Lauf lassen durften. Das alles kommt jetzt zum Vorschein und bringt ein entscheidendes Problem mit sich: Die Jungs wissen gar nicht, wie stark sie sind und was Schläge und Tritte bei anderen anrichten können.

 

Was tun, wenn Jungs sich prügeln?

Wir sind so sensibel gegenüber Gewalt geworden, dass wir keinesfalls zuschauen wollen oder ertragen können, wenn zwei Kinder sich in die Wolle bekommen. Anschreien ist – gerade noch so – ok, Raufen geht gar nicht. Beckmann ist der Meinung, dass es in Ordnung ist, nicht gleich einzugreifen. Solange die Situation nicht eskaliert, könnten Eltern und Erzieher ruhig einmal dabei zusehen, wenn zwei Jungs sich prügeln. Die Erfahrung ist wichtig, um die Rangordnung festzulegen und die eigene Kraft einschätzen zu können. Erst dann bekommen die Jungs ein Gefühl für sich und einen Maßstab dafür, was ein Tritt oder ein Schlag für einen anderen bedeutet.

 

Neue pädagogische Konzepte für den Umgang mit Aggression

Selbstverständlich geht es gerade in Kindertagesstätten und Schulen nicht, dass Meinungsverschiedenheiten mit Raufereien geklärt werden. Und um eine Prügelei zu überwachen fehlt beim Personal meistens Qualifikation und auch die Möglichkeit (Stichwort: zu wenig Personal). Dennoch haben einige Einrichtungen den Gedanken verinnerlicht, dass Rangeln und Raufen für Jungs einfach dazugehört. Also wird eine Rauf- und Rangelzeit eingeführt, in der jedes Kind seine Kräfte mit anderen messen darf, mit klaren Regeln selbstverständlich. In immer mehr Schulen gehört zum Sportunterricht auch die Disziplin Ringen und Raufen dazu – mit Vollkontakt. Wissenschaftler befürworten dies, denn sie sind der Meinung, dass der damit verbundene Aggressionsabbau und die nötige Selbstdisziplin die Kinder schlauer machen. Was die Angst vor dem Verletzungsrisiko angeht: Eine Untersuchung verschiedener Mediziner hat ergeben, dass sich Kinder weit häufiger bei den klassischen Sportarten wie Fußball, Handball oder Skifahren verletzen als beim Ringen oder anderen Kampfsportarten.

 

Raufen im heimischen Umfeld

Mütter mögen es oft nicht, wenn ihre Kinder sich prügeln, manche Väter auch nicht. Dennoch sind sie da, die Konflikte und das Aggressionspotential. Was in der Schule und im Kindergarten funktionieren kann, klappt auch zuhause unter Geschwistern. Lassen Sie Ihren Kindern freien Lauf, soweit es geht und schreiten Sie erst ein, wenn die Gewalt überhandnimmt. Vielleicht stellen Sie Erstaunliches fest, nämlich dass die Kinder sich kurz in die Wolle bekommen und anschließend friedlich und vollkommen versöhnt weiterspielen – die Luft ist wieder sauber.