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Die Schneelöwin - Meine Tochter: 1. Sysyphos: 0.

Sie haben miterlebt, wie Bruce Willis alias John McClane allein gegen die bösen Buben gewinnt? Wie sich Rambo gegen diverse Widerstände durchbeißt – und schießt? Wie Bastian Schweinsteiger der Turm in der WM-Final-Schlacht 2014 war? Hier ist ein weiteres Kapitel aus dieser Reihe. Meine Tochter hinter der Skihütte.

Letzten März. Skitag mit meiner Älteren, 7 Jahre alt. Die Mission: die Fortschritte, die sie beim Ausbalancieren auf den Brettln in dieser Winter-Saison gemacht hatte, weiter zu festigen. Lief soweit auch alles gut, bis auf einen kleinen Abstecher in den Tiefschnee, der den Sturz zum Glück abdämpfte und glimpflich ausgehen ließ. Trotzdem war eine Stärkung in der Skihütte angesagt: Es gab Tofu-Spieße mit Kurkuma Pesto und einen Ingwer-Karotten-Smoothie. In einer bayerischen Skihütte? Glauben Sie wohl selber nicht. Nein, nein, wir entschieden uns natürlich für die klassische Schnitzel-Pommes-Mayo-Variante. 

 

Der bequeme Action Kompromiss.

Danach wollte ich mir – meiner Altersgruppe entsprechend – die Frühlingssonne auf den Anorak scheinen und den Kaffee auf der Terrasse schmecken lassen. Das Energiebündel neben mir war aber natürlich schon wieder reif für "der Welt ein Bein ausreißen". Deswegen der Kompromiss. Ich suchte mir einen gemütlichen Sitzplatz draußen, die Tochter konnte sich direkt nebenan auf einen natürlichen Parcouring Track begeben: An dem relativ steilen Hang mühten sich bereits eine kleine Legion von Skipausen-Kids Richtung oben, mit dem Ziel, nach erfolgreichem Aufstieg auf einem sehr bewährten Rutschmaterial johlend wieder nach unten zu sausen: dem Hosenboden. 

Das Problem: durch das wiederholte Raufstapfen und zwischenzeitliche Ausrutschen waren die Aufstiegspfade schon so aus- und abgetreten, dass der Aufstieg bereits rutschiger war als die ersehnte und geplante Bergab-Rutsche. Außerdem ist der Gegensatz zwischen Skischuhen und Kletterschuhen ähnlich eklatant wie zwischen einem Sumo-Ringer und Florian Hambüchen.

Ich beobachtete von meinem Sonnen-Logenplatz aus das Treiben der Nachwuchs-Reinhold-Messners und machte das, was ein kopfgesteuerter Erwachsener am besten kann: Zweifel hegen. Schafft meine Tochter die Strecke? Wie viele Fehlversuche wird sie tolerieren, bis sie aufgibt? Eine "Seilschaft" nach der anderen scheiterte an den widrigen Geländebedingungen, Wutgeheul mischte sich mit Verzweiflung, kurz gesagt: Dramen spielten sich vor meinen Augen ab. 

 

Unweigerlich musste man an den armen Sysyphos denken. 

Seine Strafe in der Unterwelt bestand ja darin, einen Felsblock einen steilen Hang hinaufzurollen. Kurz vor Erreichen des Gipfels entglitt ihm immer wieder der Stein und er musste stets wieder von vorne anfangen. Bis in alle Ewigkeit. Und ich habe mich gefragt, inwieweit ich in meiner damaligen Lebenssituation – die alles andere als stabil war – die Kraft und den Mut gehabt hätte, wieder von vorne anzufangen und alle Energie in den nächsten Aufstieg zu legen. Und vor allem: wie oft? Wie viele Rückschläge würde ich dem bayerischen Schneehang verzeihen? 

Ich beobachtete meine Tochter aus gewisser Entfernung, wie sie nach einem erneuten Fehlversuch eine Weile liegen blieb und das Gesicht in die Hände vergrub. Sollte ich zu ihr hingehen und sie trösten? Ihr Mut zusprechen? Obwohl ich in dem Moment selbst nicht überzeugt war, dass sie es beim nächsten Mal ganz nach oben schafft? Oder bei den nächsten fünf Mal? Zehn Mal? Gerade als ich meinen ebenso müden wie depressiven Hintern heben wollte, merkte ich, wie sich meine große Kleine wieder aufrappelte. Sah sie zwar nur von hinten, konnte aber spüren, wie sie die Zähne zusammenbiss. Konnte ihre Wut förmlich greifen. Mit neuem Schwung stapfte sie nach oben, überholte dabei den einen oder anderen Aufstiegskonkurrenten, so gut war sie bis jetzt noch nie unterwegs, nur noch ein paar Meter, nur noch ein Meter, gleich ist sie ... Da rutscht sie im letzten Moment noch einmal aus, wieder den ganzen Weg nach unten, begleitet von schadenfrohen Blicken der anderen Hang-Hänger. 

 

Ich als Papa meinte genau zu wissen, was ich zu tun hatte. 

Wohlwollenden väterlichen Trost zu spenden und sie vor den Gemeinheiten des Lebens in Schutz zu nehmen. Mit diesem Vorsatz wollte ich gerade losgehen, doch ... meine Tochter stand schon wieder. Und mehr noch. Sie startete den nächsten Kletterversuch. Woher kommt dieser unbändige Wille? Hatte ich als Kind auch noch das Urvertrauen, dass alles irgendwie irgendwann klappen wird? Wo ist das hin? Und wo ist meine Gladiatorin? Sie hatte schon wieder die Hälfte des Weges hinter sich. Mit offenem Mund stand ich neben meiner leeren Kaffeetasse, mit meinen leeren Trostgedanken – und war einfach nur verblüfft über diesen Kampfgeist. Jetzt waren es nur noch zwei Meter. Kurz davor, wo sie beim letzten Versuch knapp gescheitert war. "Wird sie dieses Mal wieder scheitern?" fragte ich mich. Doch die, die sich die Frage des Scheiterns in dem Moment gar nicht stellte, scheiterte auch nicht. Sie schaffte es tatsächlich. Zog sich mit letzter Kraft auf den "Mount Everest" der Götschen Alm. Das Einzige was ich zog, war meinen imaginären Hut vor dieser Leistung. Ich staunte. Und an diesem Tag lernte ich: 
 
Alles ist möglich. Wenn man das Herz einer Löwin hat.

 

 

Christoph Bauer ist Vater von zwei Töchtern (4 und 7). Er arbeitet als freier Texter, Autor und Redakteur. Mehr auf www.christoph-bauer-text.com