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Interkulturell gewinnt- Erziehung zwischen den Kulturen

Auch in einer kleiner werdenden Welt sind die Erziehungsbilder zwischen den Kulturen noch sehr unterschiedlich. Wo Nordeuropäer sich mit Frühförderung, Schlafrhythmus, Erziehungsmodellen und der optimalen Ernährung für ihre Kleinen verrückt machen, laufen Kinder in anderen Kulturen eher mit und werden im Kollektiv der Großfamilie erzogen. Ein Bericht aus dem Deutsch-Venezolanischen Erziehungsalltag.

„Noah, no!“ ruft meine Frau und nimmt unserem achtmonatigen Sohn die Fernbedienung aus der Hand, die er gerade genüsslich in den Mund gesteckt hat. Gleichzeitig blickt sie auf den Monitor meines Laptops, wo sie auf Skype mit ihrer Familie verbunden ist. Aus den Lautsprechern tönen Kindergeschrei und die Rufe meiner Schwiegermutter, die zum einen mit meiner Frau spricht, während sie daneben mit einem Onkel in Calgary telefoniert und im Hintergrund der Fernseher läuft. Ich sitze kopfschüttelnd daneben und versuche zu begreifen, wie man so kommunizieren kann. Währenddessen steckt Noah - ohne dass seine Mutter eingreift - die Fernbedienung wieder in den Mund und aus dem Laptop höre ich, dass dort ein Kind gerade vom Sofa gefallen ist und bitterlich weint. Warum ich Ihnen das erzähle? Weil es eine typische Szene aus meinem interkulturellen Familienleben ist.

 

Die Kinder sind mittendrin

Ich bin kein Freund von kulturellen Stereotypen, aber meine Frau und ihre Familie entsprechen ziemlich genau dem Bild, was Nordeuropäer von Südamerikanern haben. Temperamentvoll, laut, chaotisch - und lebensfroh. Letzteres hat mich an der Familie meiner Frau immer begeistert. Sie verstehen es, das Leben zu genießen und vor allen Dingen: zu feiern. Wo auf deutschen Partys die Gäste gelangweilt herumstehen, in der Küche über Weltpolitik diskutieren und sich dabei an ihrem Bier oder Wein festhalten, wird in Venezuela noch richtig getanzt, gelacht, getrunken - bis zum Morgengrauen. Wo deutsche Eltern kleiner Kinder sich um zwanzig Uhr verabschieden, weil „der Kleine jetzt aber wirklich ins Bett muss“ , sind die Kinder in Venezuela einfach mittendrin - bis zum Ende. Übermüdung, Reizüberflutung, Schlafrhythmus? - ich frage mich manchmal, ob es für diese Begriffe in Venezuela überhaupt eine Übersetzung gibt.

 

Kinder müssen sich an die Eltern anpassen, nicht umgekehrt

„Das ist sonst zu viel Programm“ sagt eine deutsche Freundin meiner Frau und erklärt damit, warum sie mit ihrem Sohn nur eine Aktivität in der Woche besucht. Sie will ihren Sohn „nicht überreizen und seinen Rhythmus durcheinanderbringen“. Ich versuche mir dabei das Gesicht meiner Schwiegermutter vorzustellen, würde sie das hören. In Venezuela haben sich die Kinder an den Rhythmus der Eltern, der Familie anzupassen und nicht umgekehrt. Wo Eltern hierzulande aufhören auszugehen, weil sie noch keinen Babysitter haben und die Kleine ja um sieben im Bett sein muss, nehmen Venezolaner ihre Kinder einfach mit. Kinder sind Teil des Lebens der Erwachsenen - nicht umgekehrt.

 

Es gibt hierzulande kaum Kinder, aber für die wird alles gemacht

PEKIP, Babyschwimmen, Krabbelgruppe, Eltern-Kind-Turnen - sind nur einige der Freizeitangebote, aus denen Eltern hierzulande auswählen können und müssen, wollen sie sich nicht vorwerfen lassen, die Entwicklung ihres Kindes zu vernachlässigen. Als jedoch ein Onkel meiner Frau die ersten Bilder aus dem PEKIP-Kurs sah, in den wir mit Noah gehen, fragte er: „Warum macht ihr diese Therapie?“ Solcherlei Angebote sind in Venezuela vollkommen unbekannt. Nicht, weil es niemanden gäbe, der sich das leisten könnte, aber weil Eltern nicht einsehen, warum sie ihre Freizeit dazu nutzen sollen, mit ihren Kindern in überheizten Hebammenpraxen herumzukrabbeln.

 

Kinderlieb und kinderfreundlich

Sollte bis hier der Eindruck entstanden sein, dass Venezolaner sich weniger um ihre Kinder kümmern, so stimmt das nur zur Hälfte. Sie kümmern sich anders. Kinder wachsen im Kollektiv der Großfamilie auf. Onkel, Tanten, Cousinen und Großeltern erziehen gemeinsam. Das erklärt auch zum Teil, warum die Geburtenrate in Venezuela immer noch deutlich über der in Deutschland liegt, denn die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist in Venezuela kein Problem. So sind drei Kinder pro Familie meist die Norm und auch vier bis fünf keine Seltenheit. Klar, dass da die individuelle Förderung des einzelnen Kindes schmäler ausfällt. Dennoch, die Kinderfreundlichkeit im Land ist sprichwörtlich. Man ist stolz auf seine Kinder, Kinder dürfen viel und Kinder werden im Rahmen der Familie durchaus verwöhnt.

 

Wenn Kulturen aufeinandertreffen

Kein Wunder also, dass meine Frau stark von ihren Erlebnissen als Kind und in ihrer Familie geprägt ist und für sie der Umgang mit Kindern in Deutschland gewöhnungsbedürftig war. Sie empfand es zunächst als verkrampft und deutsche Eltern oft als hysterisch. Zudem war es für sie nicht nachvollziehbar, warum mit der Geburt eines Kindes das Leben der Eltern vollkommen auf den Kopf gestellt wurde. Doch mittlerweile sind die Unterschiede in den Erziehungsmodellen für uns eine Bereicherung. Ich freue mich für Noah, dass er eine solche Großfamilie hat, wo er begeistert von Tanten und Onkeln herumgetragen wird, und mit seinen zahlreichen Cousinen und Cousins spielen kann, wo er einfach mittendrin ist und niemand hysterisch aufspringt, wenn er sich eine Handvoll Reis in den Mund steckt oder mal umfällt. Gleichzeitig genieße ich aber auch die Momente, wo meine Frau und ich mit ihm alleine sind und wir uns beim Babyschwimmen ganz auf ihn konzentrieren. Und wenn wir ausgehen, dann machen wir es „Deutsch-Venezolanisch“. Wir nehmen ihn mit, gehen aber früher nach Hause. So bekommt er von beiden Modellen das Beste.  

 

Christian Mörken, 38 Jahre, lebt als freier Autor, Redakteur und Texter mit seiner Frau Gabriela und seinem Sohn Noah Maximilian in Pfronten.