Gleichmacherei oder künstliche Unterscheidung? Bei der Frage, wie ähnlich oder eben unähnlich sich Männer und Frauen sind, türmen sich schnell tosende Wellen auf, die jede sachliche Diskussion zunichte machen. Eine kürzlich veröffentlichte Studie wird die Debatte sicher nicht gerade leiser werden lassen.
Studie: Männer und Frauen sind wohl unterschiedlicher als gedacht
Wie unterschiedlich ticken Männer und Frauen? Diese Frage treibt die Menschen schon seit langer Zeit um. Antworten sollten zahlreiche Studien bringen, die in vielen Fällen zu einem größtenteils gemeinsamen Schluss kamen: Die Unterschiede sind längst nicht so gravierend, wie angenommen. Jetzt haben sich Forscher aus den Universitäten Turin und Manchester um Marco Del Giudice daran gemacht, alte Studien aufs Neue unter die Lupe zu nehmen. Ihre Ergebnisse weichen von denen vergangener Zeiten erheblich ab.
20 Jahre Unterschiede
In 20 Jahren kann viel passieren. Die Forscher aus Turin und Manchester haben sich nun die Daten aus dem Jahr 1993 vorgenommen, die hohe Übereinstimmungen von Männern und Frauen zeigten. Insgesamt 10.000 Probanden wurden damals nach ihren Selbsteinschätzungen befragt. Erst im Jahr 2005 wurden darauf fünf Hauptdimensionen der Persönlichkeitspsychologie untersucht. Diese fünf Dimensionen lauteten:
- Neurotizismus (emotionale Instabilität oder Stabilität)
- Extraversion (wie sehr "nach außen gewandt" ist eine Persönlichkeit)
- Offenheit für Erfahrungen
- Verträglichkeit
- Gewissenhaftigkeit
Anhand dieser Faktoren stellte die damalige Studienautorin Janet Hyde eine eindrucksvolle Übereinstimmung fest. Immerhin 78 Prozent betrug diese und wurde so zur Basis von Hydes späterer „Gender similarities hypothesis“. Doch nun geraten diese Zahlen ins Wanken, denn im Jahr 2013 wurden nicht mehr nur fünf Hauptdimensionen in die Bewertung mit einbezogen, sondern 15 Kategorien berücksichtigt. Das Bild, das sich daraus ergibt, ist ein komplett anderes – und dürfte der Genderdebatte neues Futter geben.
Ergebnisse, die sich aufheben
Del Giudice ist bei seinen Untersuchungen auf Widersprüchlichkeiten gestoßen, die zu einem verfälschten Bild führten. So stellte er fest, dass anhand der Untersuchungskriterien verschiedene Eigenschaften vereint wurden, die sich rechnerisch gegenseitig aufhoben. Da er aus fünf die angesprochenen 15 Kategorien machte, kam er zu völlig anderen Ergebnissen. Diese ergaben, dass Frauen deutlich mehr Zuneigung und Wärme innehaben, emotionaler reagieren, sensibler und fürsorglicher sind und eher Vertrauen aufbauen. Männer hingegen sind dominanter, emotional stabiler, wachsamer und reservierter. Zudem stellen für Sie Nützlichkeit und feste Regeln wichtige Größen dar.
90 Prozent Unterschiede?
Was Del Giudice und sein Team herausgefunden haben wollen, wird nicht jedem und nicht jeder unbedingt gefallen. Sie kommen zum Schluss, dass 90 Prozent der Eigenschaften von Männern und Frauen geschlechterspezifisch sind. Das ist ein außergewöhnlich hoher Wert. Nur 10 Prozent Gemeinsamkeiten konnten die Forscher ausmachen, und die zeigten sich in Bereichen wie Perfektionismus oder Lebendigkeit. Was heftige Diskussionen nach sich ziehen könnte, ist für Del Giudice und seine Kollegen nicht weiter verwunderlich. Besonders in den 1970er und 80er, aber auch noch in den 90er Jahren war die Meinung weit verbreitet, dass die Unterschiede zwischen Mann und Frau vorrangig in der Erziehung zu finden sind. Im Umkehrschluss bedeutete das: Wenn die Erziehung von Jungen und Mädchen angepasst wird, verringern sich die Unterschiede. Das sehen Del Giudice anders, genauso wie Raphael Bonelli von der Sigmund-Freud-Privatuniversität in Wien. Bonelli sagt: „Besonders in den 70er- und 80er-Jahren führte die Wissenschaft alle Geschlechtsunterschiede auf Erziehung und Gesellschaft zurück. Seit zehn Jahren gibt es jedoch eine Trendwende weg von dieser ideologischen Prägung.“ Allein diese Aussage birgt durchaus politischen Sprengstoff in sich, denn wenn man sie sich genauer ansieht, kann man zum Schluss kommen, dass heute Männer und Frauen objektiver, gewissermaßen wissenschaftlicher betrachtet werden. Doch Kritiker werden schnell anmerken, dass ideologische bzw. soziologische Faktoren auch heute noch eine Rolle spielen und daher nicht einfach unberücksichtigt bleiben können.
Evolution versus Sozialisation
Zahlreiche Forscher kommen heute zum Schluss, dass alleine die Evolution schon Gründe genug liefert, Männer und Frauen unterschiedlich zu „formen“. Im Jahre 2000 war es Simon Baron-Cohen von der Universität Cambridge, der anhand von Experimenten bei Neugeborenen nachgewiesen haben wollte, dass Mädchen und Jungen vom ersten Tag an unterschiedlich sind. Er kam zum Schluss, dass Frauen grundsätzlich empathischer und Männer systematischer veranlagt sind. Wenn man die Ergebnisse der Experimente an Neugeborenen tatsächlich übertragen kann, wären zumindest teilweise die Unterschiede nicht soziologisch oder gar ideologisch zu erklären.
Das alte „Totschlag-Argument“
Was Soziologen, Psychologen und Pädagogen sicherlich in großer Zahl missfallen wird, sind die Ansätze der Anthropologie und der Evolution. Demnach liegt es in der Natur der Sache, dass die Persönlichkeit von Frauen eher auf die Bildung von Beziehungen und Familie ausgerichtet ist. Männern werden evolutionsbiologisch eher Stärken bei der Nesterrichtung, der Abwehr von Feinden oder der Essensbeschaffung bescheinigt. Bonelli hat noch einen Satz parat, der Kritiker die Zornesröte auf die Stirn treiben dürfte: „Nicht nur der Geist, sondern auch der Körper bestimmt das psychische Erleben mit“, so der Fachmann.
Isoliert betrachtet klingt all das sogar logisch und nachvollziehbar. Wenn man jedoch mit einbezieht, dass wir das Zeitalter des Jagens längst verlassen haben, die Erde sich weiter entwickelt hat und auch die Evolution nicht stehen geblieben ist, könnte man allerdings ebenso schlüssig zu ganz anderen Erkenntnissen kommen.