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„Schreien ist gut für die Lungen“ – Erziehung damals und heute

Kennen Sie diesen gutgemeinten Ratschlag auch, den Eltern manchmal zu hören bekommen, wenn Sie Ihr Kind hochnehmen, anstatt es verzweifelt brüllen zu lassen? Die Erziehungsregeln von damals spuken immer noch in vielen Köpfen – und das betrifft nicht nur die ältere Generation!

Einer der ersten Erziehungsratgeber und ein echter Bestseller war das Werk „Die Mutter und ihr erstes Kind“, verfasst von Johanna Haarer, einer nationalsozialistischen Ärztin und mehrfachen Mutter. Liest man in diesem Werk, sträuben sich modernen Eltern die Nackenhaare – aber einiges dürfte uns dennoch bekannt vorkommen. Vielleicht, weil wir es selbst in unserer Erziehung noch erlebt haben.
 

 

Die Mutter und ihr erstes Kind – ein Erziehungsratgeber aus der Nazizeit

Die Gesamtauflage des Buches beträgt 1, 2 Millionen Exemplare, die letzte Ausgabe dieses Werkes erschien noch im Jahr 1987, lediglich vom Nazi-Jargon befreit. Die alten Erziehungsratschläge waren da weitgehend übernommen und wurden von vielen Eltern gutgläubig beherzigt – unter anderem auch deshalb, weil sie viele aus der eigenen Kindheit kennen:

  • Schreien kräftigt die Lungen und dient mehr dazu als der Gefühlsäußerung.
  • Zu viel Blick- und Körperkontakt verweichlicht und macht das Kind zum Haustyrann.
  • Das Verhalten des Kindes zielt weitgehend darauf ab, Macht zu gewinnen und die Führung zu übernehmen.

Gerade der letzte Punkt hat nach Meinung der Historikerin Miriam Gebhardt einen festen Platz in den Köpfen der Eltern: Kinder zu haben sei ein ständiger Kampf um Disziplin, eine Kraftprobe und mit unzähligen Opfern verbunden, die speziell die Mutter bringen muss. Dieser Glaube der Aufopferung der Mutter für ihr Kind bis hin zur Selbstaufgabe lebe noch immer in Deutschland fort, wie man an der Diskussion um Fremdbetreuung sehe, so die Historikerin Miriam Gebhardt. Wen wundert es da noch, dass viele Paare davor zurückschrecken, sich dieser Belastung zu stellen?

Der kleine Tyrann

Sieht man sich aktuelle Erziehungsratgeber an, findet man tatsächlich noch viele Hinweise auf dieses alte Bild. Da wird von Haustyrannen, herrschsüchtigem Verhalten und immer wieder davon gesprochen, dass Kinder in Machtkämpfen versuchen, die Führung zu übernehmen. Zwar mag dies nicht ganz falsch sein, allerdings spricht der Jargon für sich und erinnert oft sehr an frühere Zeiten.

Gute Ratgeber vermitteln heute, dass es bei den „Machtkämpfen“ keineswegs um eine beabsichtigte „Machtübernahme“ durch das Kind geht. Es geht ihm darum, Grenzen zu fühlen und einen möglichst festen Rahmen abzustecken, in dem es sich sicher bewegen und entwickeln kann.
 

„Expertenwissen“ statt Bauchgefühl

Miriam Gebhardt hat für ihr Buch „Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen – Eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert“ Tagebücher von Müttern aus den 1960ern ausgewertet. Dort hat sich an vielen Stellen gezeigt, dass die Ratschläge aus dem Erziehungsratgeber ernster genommen wurden als das eigene Gefühl. Intuition und Mutterinstinkt wurden unterdrückt und noch heute vertrauen viele Eltern mehr auf das, was sie im Erziehungsratgeber lesen als auf ihre Gefühle in einer speziellen Situation. Vielleicht ist die deutsche Erziehungsgeschichte auch der Grund dafür, warum in kaum einem anderen Land so viele Erziehungsbücher verkauft werden wie in Deutschland.

 

Kinder als empfindungsloses Wesen

Wussten Sie, dass Säuglinge bis in die 1970er Jahre ohne Narkose operiert wurden? Man ging davon aus, dass diese „unfertigen Wesen“ kein Schmerzempfinden und keine Erinnerung hatten. Dazu passt die Einschätzung des kindlichen Schreiens, dass ja nur dazu da sei, die Lunge zu stärken. Zum Glück hat sich auch diese heute stark verändert und Kinder werden von der ersten Lebensminute an als denkende und fühlende Persönlichkeiten betrachtet. Dennoch sollten wir stets aufmerksam bleiben und die Spuren der Erziehungsphilosophie aus früheren Zeiten erkennen und beseitigen, sobald wir sie wahrnehmen können.

Das komplette Interview mit Miriam Gebhardt finden Sie hier.