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Aalsuppe und Labskaus im Gläschen - Gedanken zum Essensgedächtnis meines Sohnes

Wenn Kinder nicht gut essen, kann es unter Umständen an ihrem Essensgedächtnis liegen. Das meint zumindest die PEKIP-Kursleiterin unseres Autoren Christian Mörken und stürzt ihn und seinen Sohn damit in ein ganz schönes Dilemma. 

Mein Sohn ist kein guter Esser. Nein, ich muss sagen, er ist ein ziemlich schlechter Esser. Er ist jetzt elf Monate alt und mag eigentlich so gut wie nichts. Gleich, ob wir ihm Karotten, Kartoffeln, Nudeln oder was auch immer anbieten, nach vier oder fünf Löffeln fangen seine Ärmchen an in der Luft zu rudern, wird der Kopf zur Seite geworfen und alles dargereichte Essen fliegt im hohen Bogen durch die Küche. Ganz gleich ob es von dem Mann ist, der mit seinem guten Namen für die Qualität seiner Karotten- Kartoffel-Rind- Matsche wirbt oder selbstgekocht ist. Da ist er ganz demokratisch. Jedes Essen wird gleichstark nicht gemocht.

 

Ich erinnere mich an das Essensgedächtnis

Als ich mir also vor wenigen Tagen erneut die Essenschlacht am Abendbrottisch ansah und beobachtete, wie meine Frau mit Engelsgeduld auf ihn einredete, vorgab, dass sie sein Essen auch gern essen würde und es ihm mit allerlei Beigaben versuchte schmackhaft zu machen - nur um zu beobachten, wie wenige Sekunden später die Spätzle in Rahmsoße am Küchenschrank klebten und von da langsam herunterliefen, erinnerte ich mich an einen Satz aus dem PEKIP-Kurs. „Ihr Sohn hat ein Essensgedächtnis“, hatte mir die Kursleiterin gesagt. Ich war überrascht, denn ich hatte noch nie zuvor davon gehört. Nun gut, ich kann mich meistens (wenn nicht zu viel Alkohol im Spiel war) auch noch ganz gut daran erinnern, was ich am Vortag gegessen habe. Aber deshalb würde ich nicht behaupten, ich hätte ein Essensgedächtnis. Auch führt mein Essensgedächtnis nicht dazu, dass ich Essen grundsätzlich ablehne. Eher im Gegenteil, wie mein BMI mir täglich schmerzhaft vor Augen führt.

Das Essensgedächtnis speichert die kulinarischen Vorlieben unserer Vorfahren

Mit dem Essensgedächtnis ist das so eine Sache. Das reicht nämlich viel weiter zurück; gewissermaßen in die prähistorischen Zeiten unseres individuellen Daseins. Es sorgt dafür, dass wir heute Dinge essen möchten, die dort genetisch vor Jahrzehnten abgespeichert wurden. Es ist also eine Art Geschmacks-Archiv.  Dabei greift das Essensgedächtnis direkt auf unsere kulturellen Wurzeln zurück - das hat mir die Kursleiterin im PEKIP zumindest so gesagt. Tja, und das macht die Sache bei unserem Sohn recht kompliziert. Gut, ich bin Hamburger und käme meine Frau auch aus Hamburg, dann wüsste ich sofort: Meinem Sohn giert es nach Aalsuppe und Labskaus. Das wäre auch einfach, denn Labskaus sieht ja schon so aus, wie das Zeug im Gläschen und lässt sich auch ohne Zähne gut essen. Leider gibt es weder Aalsuppe noch Labskaus im Gläschen zu kaufen - wahrscheinlich aufgrund zu geringer Nachfrage. Was mich jetzt auch nicht wirklich wundert.  Aber meine Frau ist keine Hamburgerin. Sie kommt aus Südamerika, genauer gesagt aus Venezuela. Tja, und nun wird es erst recht kompliziert. In Venezuela nämlich kommen ja ganz andere Speisen auf den Tisch.  Hier werden Kinder schon von klein auf mit Schwarzen Bohnen, Arepas (kleine Maisfladen) und Empanadas (gefüllte Maisteigtaschen) ernährt. Vielleicht beliebt meinem Sohn also danach? Es muss nicht erwähnt werden, dass es leider keine schwarzen Bohnen mit Empanadas im Gläschen zu kaufen gibt - nicht einmal in Venezuela. Aber damit nicht genug. Meine Frau hat ja verschiedene kulturelle Wurzeln - und jetzt wird es richtig kompliziert - die reichen in drei verschiedene Kulturkreise.

Was wenn verschiedene Kulturen beteiligt sind?

Da wäre zunächst einmal Spanien. Also sollten wir ihm vielleicht Paella, gemischte Tappas oder Tortilla anbieten? Das könnte es sein. Ob das funktioniert, ist nicht sichergestellt. Venezuela ist nämlich auch sehr durch die Karibik geprägt. Es gibt also einen nicht unerheblichen afrikanischen Anteil in den Genen der Bevölkerung und auch meine Frau hat davon etwas abbekommen. Nehmen wir also einmal an, ihre Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ahnen kämen aus Westafrika, dann könnte Noah sich in Sachen Essensgedächtnis an Maniok, Fufu oder Yams erinnern? Doch was, wenn die Indio-Wurzeln meiner Frau, die in ihrer Familie stark ausgeprägt sind, den Ausschlag geben? Vielleicht gelüstet es Noah nach Yucca oder Ajote? Sie sehen, die Sache ist nicht einfach. Am besten ich stelle ihm morgen einfach einmal eine Auswahl an Aalsuppe, Labskaus, Empanadas, Platanos, Fufu und Yucca hin und sehe, was ihm davon am besten schmeckt. Vielleicht werfe ich aber auch einfach alles in den Mixer und biete es ihm als leckeren Brei an? Entweder fährt er dann richtig darauf ab, oder aber es kommt alles wieder hoch - was mich jetzt auch nicht wundern würde. Ich fürchte, mir bleibt nur eines übrig: Hoffen, dass es auch so etwas wie Essens-Alzheimer gibt. Dann kann ich Noah endlich wieder die Gläschen mit Kartoffel-Karotten-Rindfleisch-Matsche hinstellen und er glaubt, dass er das schon immer am liebsten gegessen hätte. Und meine Frau muss nicht ständig die Küchenschränke abwischen.
 

Christian Mörken, 38 Jahre, lebt als freier Autor, Redakteur und Texter mit seiner Frau Gabriela, Sohn Noah Maximilian und Tochter Greta im Allgäu.