Ab dem 1. August 2013 hat jedes Kind in Deutschland einen gesetzlichen Anspruch auf einen Krippenplatz. Das ist höchste Zeit. Denn wer heute einen Betreuungsplatz für seinen Nachwuchs sucht, begibt sich auf eine Ochsentour. Und viele Eltern sind frustriert. Ein Erfahrungsbericht aus München.
Kinderbetreuung in Deutschland – wie findet man sie? Ein Erfahrungsbericht
Man kennt sich schon. „Sie auch hier?“, schallt es mir entgegen, mal wieder. Ich werfe einen Blick auf die Menschen, die vor der Bürotür Schlange stehen, und sehe lauter bekannte Gesichter. Sie lächeln gequält, echte Wiedersehensfreude sieht anders aus. Dabei sitzen wir alle im selben Boot: Wir alle ziehen von Einrichtung zu Einrichtung und suchen nach einem Krippen- oder Kindergartenplatz für unsere Söhne und Töchter. Aber wir sehen uns nicht nur als Leidensgenossen, wir sind Konkurrenten. Es fühlt sich an, als spielten wir das Kinderspiel „Reise nach Jerusalem“: Dort schnappen sich die Spieler gegenseitig die Stühle weg. Bei uns sind es die Betreuungsplätze.
Seit drei Monaten ist in den Kindergärten wieder Anmeldezeit, jeden Dienstag von 16 bis 18 Uhr. Und in jeder Einrichtung treffen wir uns wieder, dieselben unermüdlichen Mütter und Väter. Geschichten machen die Runde von langen Schlangen und vollen Wartelisten, von Bekannten, die trotz langer Suche keinen Krippen- oder Kindergartenplatz gefunden hätten, aber auch Geschichten von netten und günstigen Tagesmüttern und von Einrichtungen im Umland, die angeblich auch noch Kinder aufnehmen sollen, zur Not. Es ist zum Verzweifeln.
Die Statistik sagt: Die Chancen sind günstig – relativ
Dabei steht die Stadt München eigentlich gar nicht so schlecht da, was Kinderbetreuung angeht. Die bayerische Hauptstadt wächst und wächst, immer mehr Familien mit Kindern leben in der Stadt, und trotzdem steigt der Versorgungsgrad mit Plätzen für Kinderbetreuung kontinuierlich. Von den Drei- bis Fünfjährigen haben derzeit mehr als 90 Prozent einen Kindergartenplatz, rund zehn Prozent mehr als noch vor einem Jahr. Bei den ganz Kleinen stehen immerhin für etwas über 36 Prozent der Kinder unter drei Jahren Krippenplätze zur Verfügung. 36 Prozent sind nicht sonderlich viel, aber wesentlich mehr als der Bundesdurchschnitt – der lag im März 2011 bei 25,2 Prozent. Und die Zahl übertrifft bereits den ursprünglichen Plan der Bundesregierung. Als die den Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz ab 2013 beschloss, war sie davon ausgegangen, dass es ausreichend sei, bundesweit im Durchschnitt 35 Prozent der Kinder zu versorgen. Die übrigen Kinder würden zu Hause von ihren Eltern betreut. Die Stadt München allerdings geht davon aus, dass diese Zahl sehr konservativ geschätzt ist. Wahrscheinlicher sei ein Bedarf an Krippenplätzen von mehr als 60 Prozent. Entsprechend akut ist der Mangel an Krippenplätzen. Immer mehr frustrierte Eltern spielen mit dem Gedanken, einfach selbst eine Krippe zu eröffnen. Mittlerweile haben sich sogar Firmen etabliert, die nichts weiter tun, als sie dabei zu beraten.
Wir führen genau Buch
Meine Frau und ich haben darüber auch schon nachgedacht. Derzeit suchen wir einen Krippenplatz für unsere kleine Tochter und einen Platz im Kindergarten für unseren dreijährigen Sohn. Wir stehen auf insgesamt 14 Wartelisten, und es werden wohl noch mehr werden. Wir hätten längst den Überblick verloren, hätten wir nicht angefangen, genau Buch zu führen, auch damit wir nichts vergessen. Denn ein Termin jagt den nächsten, hier eine Besichtigung, dort eine Anmeldung, dann wieder eine Rückmeldung – bei einigen privaten Trägern müssen wir unsere Bewerbung alle drei Monate erneuern, sonst werden wir von der Interessentenliste gestrichen. Und dann steht wieder einer dieser Tage der Offenen Tür an. Niemand müsse kommen, heißt es da offiziell. Die Veranstaltung sei aber hilfreich, um sich besser zwischen den Kindergärten entscheiden zu können. In den Ohren von mir und meiner Frau klingt das wie Hohn. Denn in Wahrheit hat kaum jemand die Wahl. Jeder muss froh sein, wenn er überhaupt einen Betreuungsplatz für sein Kind bekommt, und die städtischen Einrichtungen treffen ihre Auswahl selbst. Alle Eltern aber gehen davon aus, dass die Chancen auf einen Kindergartenplatz steigen, wenn sie sich vor Ort blicken lassen. Also gehen alle zum Tag der Offenen Tür. Da sind wir wieder. Die „Reise nach Jerusalem“ geht weiter.
Die richtige Strategie?
Wie man am besten an einen Betreuungsplatz kommt, weiß kein Mensch. Dieser Eindruck drängt sich auf, denn die Empfehlungen sind so zahlreich wie widersprüchlich. Es gibt Krippenleiterinnen, die dazu raten, sich bei so vielen Einrichtungen wie möglich anzumelden. Andere wiederum warnen, das hinterlasse keinen guten Eindruck, denn die Leiterinnen der städtischen Krippen und Kindergärten würden sich absprechen. Sie sähen es vielmehr gerne, wenn jemand eine Krippe ganz bewusst ausgewählt habe.
Was also tun? Das Wichtigste ist wohl, die Hoffnung nicht aufzugeben. Oft braucht es einfach Glück. Auch wir haben es schon einmal geschafft. Mein Sohn hat einen Platz in einer städtischen Kinderkrippe, noch bis zu diesem Sommer. Zuvor hatten war ebenfalls eine Odyssee zu überstehen. Wir tingelten von Krippe zu Krippe, füllten Anmeldungen aus, ließen uns auf alle Wartelisten setzen und bekamen keine Zusage. Meistens kam nicht einmal eine Absage, und wenn doch, erfuhren wir, wir seien zu spät gekommen, alle oder fast alle freiwerdenden Plätze seien schon für Geschwisterkinder reserviert oder, in einem Fall, der Platz habe nur an ein Mädchen vergeben werden können. Der Träger, eine Elterninitiative, wollte nicht, dass das Geschlechterverhältnis kippt.
Erfolg hatten wir schließlich in einer privaten Krippe, die neu eröffnet hatte. Sie lag in einem Gewerbegebiet am Stadtrand, in der Nähe warben nachts Bordelle um Freier. Der Spielplatz war eine Baustelle, das Personal schwach besetzt. Trotzdem kostete der Betreuungsplatz mehr als 600 Euro, zuzüglich Essensgeld. Und allein die Hinfahrt dauerte eine Dreiviertelstunde auf der Autobahn. Nach wenigen Monaten kündigten wir den Krippenplatz – trotz alledem widerwillig, ein Umzug zwang uns dazu. Aber plötzlich hatten wir Glück: Wir rutschten auf einer Warteliste nach vorne und bekamen einen Betreuungsplatz in einer städtischen Einrichtung in der Innenstadt, gut erreichbar mit öffentlichen Verkehrsmitteln, heimelig, bezahlbar.
Jetzt beginnt das Spiel aufs Neue, diesmal doppelt: für unseren Sohn und für seine kleine Schwester. Die Hoffnung werden wir nicht aufgeben. Um den Krippenplatz für meine Tochter haben wir uns schließlich wirklich früh gekümmert. Meine Frau war in der fünften Woche schwanger. Ab diesem Zeitpunkt liefern Schwangerschaftstests zuverlässige Ergebnisse. Der Test war gerade positiv, da hingen wir auch schon am Telefon.
Die erste Person nach mir und meiner Frau, die davon erfuhr, war die Leiterin einer Kinderkrippe.
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