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Bunte Pillen: Das Geschäft mit dem Nachwuchs

Kinder bekommen immer häufiger Medikamente. Bekannt ist die Vergabe von Ritalin bei vermeintlich vorliegendem ADS bzw. ADHS. Allerdings sind mittlerweile zahlreiche Substanzen dazugekommen - mit zum Teil wenig oder kaum erforschter Wirkung, aber reichlich Nebenwirkungen.

Die Barmer GEK hat ihren neusten Arzneimittelreport vorgelegt, der erschreckende Erkenntnisse zutage fördert. Kindern werden immer häufiger Medikamente verabreicht. Zeichen einer Gesellschaft, deren Anforderungen immer höher werden? Oder womöglich ein geschickter Schachzug der Pharmaindustrie? Beides - und noch mehr.

 

Ritalin: Enttarnte „Wunderwaffe“

Es gibt Menschen, die bezweifeln, ob es ADS bzw. ADHS überhaupt gibt. Während die einen darauf schwören, um das auffällige Verhalten ihrer Kinder zu erklären, tun andere es als konstruierte Krankheit ab, die nur der Pharmaindustrie diene. Immerhin galt Ritalin lange Zeit als wahre „Wunderwaffe“ im Kampf gegen das Syndrom, das Kindern und Eltern das Leben so schwer macht. Als jedoch bekannt wurde, dass die Wirkung von Ritalin nicht nur fragwürdig, sondern auch noch zeitlich begrenzt ist (nach ca. drei Jahren zeigt sich meist überhaupt keine Wirkung mehr), ging die Absatzmenge zurück. Doch alleine damit ist die Zunahme von anderen Medikamenten bei Kindern nicht zu erklären.

 

Austoben an den Jungen und Alten?

Der Arzneimittelreport beweist nicht nur, dass Kinder immer häufiger Psychopharmaka einnehmen, sondern darüber hinaus, dass auch ältere Menschen deutlich mehr Wirkstoffe bekommen, als das früher der Fall war. Ist das tatsächlich nötig? Der Bremer Wissenschaftler Bernd Glaeske, der bei der Entstehung des Arzneimittelreports beteiligt war, mag daran nicht so recht glauben: „Eine medizinische Erklärung lässt sich nicht direkt herleiten“, sagt Glaeske in Bezug auf die verstärkte Medikamentenvergabe bei Kindern. Es gebe keine Studien, die darauf hindeuten würden, dass psychiatrische Störungen bei Kindern zugenommen haben. Dem konträr gegenüber steht die Praxis der Verschreibung von Antipsychotika. Die stieg in den letzten Jahren um deutliche 41 Prozent, bei den neueren Präparaten sogar zu einem besorgniserregenden Wert von 129 Prozent. An neuen Therapieformen jedenfalls, die womöglich im Zusammenspiel mit Medikamenten stehen, liegt die drastische Steigerung der Medikamentenvergabe nicht, denn an den Therapieempfehlungen habe sich nichts geändert, so Glaeske.

 

Problem Zappelphilipp

Die Techniker Krankenkasse hat ebenfalls Zahlen vorgelegt. Laut diesen stiegen die Behandlungen von Kindern, die als Zappelphilipp oder Störenfrieda auffallen, in den letzten fünf Jahren auf ca. 30.000 Kinder an. Und das ist nur die Zahl der Techniker Krankenkasse. Experten schätzen, dass in ganz Deutschland wohl an die 400.000 Rezepte ausgestellt werden, auf denen Psychopharmaka verschrieben werden.

Der Druck auf die Kinder, Eltern und Lehrer scheint also gestiegen zu sein. Bei allem Verständnis kann das als Entschuldigung jedoch kaum herhalten, denn bei den meisten Medikamenten, die Kindern gegeben werden, sind Langzeitwirkungen noch nicht bekannt. Das Spiel mit den Pillen ist also ein Tanz auf dünnem Eis, dessen Ausgang in den Sternen liegt. Dennoch: Es sind ja nicht in erster Linie die Eltern, die den Ärzten auf den Schreibtischen sitzen und lauthals nach Psychopharmaka schreien. Die Problematik ist also komplexer.

 

Große Menschen, große Gewinne

Medikamente für Kinder bringen den Pharmakonzernen nur sehr übersichtliche Gewinne. Die für Erwachsene dagegen sind deutlich lukrativer. Doch im Umkehrschluss bedeutet das nicht automatisch, dass Ärzte aus betriebswirtschaftlichen Erwägungen verantwortungslos Medikamente für Erwachsene verschreiben. In extremen Situationen können sie gar nicht anders, wie ein Beispiel zeigt:

Das vierjährige Mädchen Lisa G. hatte es schwer. Gerade hatte sie eine neue Niere eingesetzt bekommen, da machte ihr ein Virus auf den Netzhäuten zu schaffen. Es gab zwar einen Wirkstoff, der theoretisch helfen konnte. Doch Ganciclovir ist bisher nur an Erwachsenen getestet worden. Lisas Ärzte mussten improvisieren, experimentieren, um die erhoffte richtige Dosis für sie zu finden. Sie scheiterten, Lisa verlor ihr Augenlicht. Hätten die Ärzte mehr Informationen gehabt, würde Lisa heute womöglich noch sehen können.

 

Es fehlt die Pflicht zum Testen

Es ist eine gravierende Zahl. Von allen Medikamenten, die es in Deutschland gibt, sind nur rund 20 Prozent ausreichend für Kinder und Jugendliche getestet worden. Das führt dazu, dass es bei der Dosierung zuweilen zu regelrechten Ratespielen auf der Seite der Ärzte kommt, was besonders bei schweren Erkrankungen gilt. Doch auch bei Psychopharmaka sind Testreihen für Kinder nicht vorgeschrieben. In den USA ist das anders. Seit 1997 müssen die Hersteller von Medikamenten zunächst aufwändige Untersuchungen durchführen, auch was die Wirkung bei Kindern angeht. Hierzulande ist das nicht so. Und die Pharmaunternehmen nehmen diese Freiheit gern an, denn zusätzliche Tests an Kindern wären nicht nur teurer, sie würden auch die Markteinführung neuer Medikamente verzögern.

 

Handlungsbedarf

Konkrete Zahlen über Todesfälle bei Kindern oder Jugendlichen aufgrund von falschen Medikamenten liegen derzeit noch nicht vor. Dass die zum Teil schweren oder sogar lebensbedrohlichen Nebenwirkungen zugenommen haben, darf jedoch angenommen werden. Das Deutsche Ärzteblatt kommt zu einer sehr kritischen Einschätzung und geht davon aus, dass die Zahl der unerwünschten Nebenwirkungen bei Kindern und Jugendlichen um 200 Prozent über der von Erwachsenen liegt. Die Frage, ob Krebs behandelt wird oder der Zappelphilipp, ist dabei nicht maßgeblich. Entscheidend ist, dass Kindern in vielen Fällen Medikamente verabreicht werden, deren Wirkung auf sie nicht bekannt ist. Im schlimmsten Fall wird diese Frage Jahre später beantwortet. Durch die Spätfolgen.