Eine Mutter, die ihr Kind stillt. Auf dem Titelblatt des amerikanischen „Time“-Magazins. Allein das ist für die eher prüden Amerikaner schon eine Diskussion wert. Wenn das Kind jedoch schon fast vier Jahre alt ist, geht ein lauter Schrei der Empörung durch die Medien und das Volk. Attachment Parenting, ein Begriff, der schon vor 20 Jahren geprägt wurde, wird nun allerorts diskutiert. Die Frage ist, ob diese Philosophie förderlich für ein Kind ist oder ihm schadet.
Attachment Parenting – Fluch oder Segen fürs Kind?
Die Frau auf dem Titelblatt heißt Jamie Lynne Grumet. Sie ist 26 Jahre alt und hat einen beinahe vierjährigen Sohn. Der wirkt durchaus zufrieden, wie er da an Mutters Brust nuckelt. Dass Grumet in ganz Amerika diskutiert wird, schien die junge Mutter zu überraschen, auf ihrer Facebook-Seite postete sie: „Oh, mein Gott, Aram und ich sind auf dem Titelblatt des 'Time Magazine'“. So überrascht, wie sie tat, wird Grumet jedoch nicht gewesen sein, schließlich wird sie ihr Einverständnis für die Veröffentlichung des Fotos gegeben haben müssen. Und letztlich dürfte es Grumet entgegen kommen, dass die Diskussion durch ihre Aufnahme angeregt wird. Sie selbst betreibt eine Internetseite, die dem Attachment Parenting zugetan ist. Andere sehen die Erziehungsphilosophie nicht nur kritisch, sondern bezeichnen sie als Missbrauch.
„Ich werde die Behörden informieren!“
Von Kindesmissbrauch ist die Rede. Kinder, die der Methode Attachment Parenting folgend erzogen würden, nähmen dauerhafte Schädigungen, die Eltern seien verantwortungsbewusste Egoisten. Nicht immer werden die Gegner so drastisch, aber es verdeutlicht, dass eine Nation geteilt ist und nicht weiß, was es davon halten soll. Auch in Deutschland wird das Attachment Parenting heftig diskutiert. Doch wo liegen eigentlich die genauen Kritikpunkte?
Bill Sears' Herangehensweise
Es war der Kinderarzt Bill Sears, der bereits vor 20 Jahren den Begriff Attachment Parenting prägte. Er beschrieb damit die „bindungsorientierte Elternschaft“. Enge körperliche Nähe, das gemeinsame Einschlafen und das Stillen lange über die sonst übliche Dauer hinaus gehören zu den Kernpunkten der Philosophie von Bill Sears. Der Arzt entwickelte eine Liste wichtiger Begriffe und Hinweise, auf die Eltern seiner Meinung nach achten müssen, um ihren Kindern die beste Entwicklung zu ermöglichen.
• Der elterliche Kontakt nach der Geburt:
Schon vor der Geburt müssen laut Sears die Eltern ihre Kinder auf die Geburt vorbereiten. Nach der Geburt ist die körperliche Nähe von größter Bedeutung und möglichst selten zu unterbrechen.
• Die Zeichen des Kindes:
Jeder Schrei eines Kindes ist ein Zeichen, so meinte Sears. Die Aufgabe der Eltern besteht darin, diese Zeichen rechtzeitig zu erkennen und das Baby zum umsorgen.
• Das Stillen:
Laut Sears ist das Stillen die beste Methode, um das Kind zu ernähren. Gleichzeitig werden die emotionalen Bedürfnisse von Kindern befriedigt. Das Kind soll außerdem lernen, nur dann Nahrung aufzunehmen, wenn es Appetit hat und mit der Nahrungsaufnahme aufzuhören, wenn es satt ist.
• Körperkontakt und Körperkontakt in der Nacht:
Körperkontakt gehört zu den wichtigsten Bestandteilen des Attachment Parenting. Nahezu immer hat laut der Philosophie von Bill Sears das Kind das Bedürfnis nach körperlicher Nähe. Berührungen erzeugen Geborgenheit, das Stillen oder die Massage gehören dazu, aber auch das Baden, das Kind eng am Körper zu tragen und das gemeinsame Schlafen in einem Bett oder ein Beistellbett direkt am Bett der Eltern. Schlaftrainings dagegen sind tabu, sie schaden dem Kind.
• Ausgeglichenheit:
Sie ist das A & O beim Attachment Parenting. Nur ausgeglichene Eltern können auf ihre Kinder so reagieren, dass es diesen auch wirklich guttut. Es geht um die eigene Befriedigung der körperlichen und seelischen Gesundheit, die die Grundlage für die des Kindes ist.
Brisante Konsequenzen
Während die oben beschriebenen Empfehlungen diskutabel, aber nicht unbedingt skandalös sind, verhält es sich bei anderen Formen des Attachment Parenting anders. So gibt es Eltern, die, der Lehre von Bill Sears folgend, darauf bestehen, dass ihre Kinder ohne Narkose und Gynäkologe zur Welt gebracht werden. Als Begründung führen sie an, dass es in der Tierwelt auch möglich sei, Geburten ohne Hilfe zu vollziehen. Im nächsten Schritt verzichten Eltern auf Impfungen ihrer Kinder oder lassen sie privat unterrichten, weil sie am staatlichen Schulsystem zweifeln. Brisant wird es, wenn Eltern dem Kind erlauben, körperliche Gewalt anzuwenden. Wenn ein Kind einen Elternteil schlägt, so liegt das an fehlendem Respekt. Dafür verantwortlich sind nach Sears Theorie die Eltern, die herausfinden müssen, woher die Gewaltbereitschaft des Kindes kommt. Auch der Verzicht auf Windeln wird ähnlich begründet. Die Eltern müssten nur die Zeichen des Kindes erkennen. Ist das der Fall, werden keine Windeln benötigt. Geht also ein „Missgeschick in die Hose“, liegt die Verantwortung dafür bei den Eltern.
Stillen bis zur Einschulung?
Für die Frau auf dem „Time“-Titelblatt ist es eine Selbstverständlichkeit, ihren Sohn lange zu stillen. Die Philosophie vom Attachment Parenting schließt auch das Stillen bis zum 6. Lebensjahr nicht aus, geht es doch um die seelische Gesundheit des Kindes. Unterstützt wird die These durch die Tatsache, dass es Kulturen gibt, in denen langes Stillen üblich und kulturell akzeptiert ist. Fakt ist, dass die Muttermilch alles enthält, was ein Kind braucht, die Welt-Gesundheits-Organisation WHO bestätigt das, spricht aber nur eine Still-Empfehlung von sechs Monaten bis einem Jahr aus.
Doch auch ein anderer Aspekt spielt mit hinein, wenn man über die richtige Dauer des Stillens nachdenkt. Schließlich geht es bei der Erziehung auch darum, dass Kinder sich irgendwann von den Eltern ablösen müssen. Zunächst in kleinen Schritten, dann immer stärker, um später ein eigenständiges Leben zu führen. Das jahrelange Stillen könnte gegen den natürlichen Mechanismus des Ablösens sprechen. Das sehen die Befürworter naturgemäß anders und argumentieren, dass die körperliche Nähe des Kindes zur Mutter durch das Stillen von größter Bedeutung für die Entwicklung von Eigenständigkeit ist. Trotzdem stellt sich die Frage, ob ein 6-Jähriger wirklich noch gestillt werden sollte. Andererseits erledigt sich das Problem unter Umständen von selbst, wenn der Nachwuchs viel lieber eine Cola trinken möchte, als an der mütterlichen Brust zu saugen. Wissenschaftliche Argumente gibt es für beide Seiten, die Entscheidung ist also eher eine Gewissensfrage.
Kritik am Attachment Parenting
Es liegt nahe, dass die Methode Attachment Parenting zahlreiche Kritiker hervorbringt. Vornehmlich feministisch geprägt ist der Vorwurf, dass Sears Methodik die Mütter überfordere, weil sie nahezu ständig die volle Aufmerksamkeit dem Kind widmen müssen und sich regelrecht für den Nachwuchs aufopfern. Eher wissenschaftliche Kritik gibt es vom Psychologen Jerome Kagan, die zu bedenken gibt, dass vererbte Charaktereigenschaften beim Attachment Parenting unberücksichtigt bleiben. Zudem findet Kagan keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass Attachment Parenting auf lange Sicht wirklich positiv wirke. Weit pragmatischer sehen es die Stimmen, die es als Gefahr betrachten, wenn das Kind zusammen mit den Eltern in einem Bett schläft. Es bestehe immer die Gefahr, dass ein Elternteil sich im Schlaf drehe und das Kind verletze oder gar töte. Es gibt durchaus Kinderärzte, die einen Zusammenhang zwischen Fällen von Plötzlichem Kindstod und dem Nächtigen im elterlichen Bett sehen.
Kein Mensch will Bill Sears sehen
Zurück zum Titelblatt der „Times“. Der Artikel dazu befasst sich mit den Lehren von Bill Sears, er dreht sich nicht etwa um Jamie Lynne Grumet, die seine Lehre unterstützt und eine eigene Website dazu betreibt. Doch Grumet dürfte kaum etwas gegen die Aufmerksamkeit haben, die sie durch das Foto erhielt. Auch nicht gegen die zahlreichen Diskussionen, die danach zum Thema Attachment Parenting geführt wurden. Sie profitierte letztlich davon, dass es verkaufsfördernder ist, eine junge Mutter mit ihrem Kind an der Brust zu fotografieren, als das Porträt von Bill Sears auf die Titelseite zu setzen. Den will kein Mensch sehen. Es mag stimmen, dass man geteilter Meinung darüber sein kann, ob Attachment Parenting funktioniert. Grumet jedenfalls hat sehr deutlich gemacht, wie die Medien funktionieren.
Dieser Beitrag gibt in erster Linie die Meinung des Autors und nicht die der gesamten Redaktion von vaterfreuden.de wieder.
Einen weiteren Artikel zum Thema "Attachment Parenting", der diesen Erziehungsstil noch genauer beleuchtet, " finden Sie hier.