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"Mach dir keine Sorgen, Papa!" - Was man von einer Zweijährigen zum Thema Traumabewältigung lernen kann

Kinder sind ganz schön hart im Nehmen. Dies lernt ein Vater, als er sieht, wie seine kleine Tochter mit einem potentiell traumatischen Unfall umgeht: cooler als der Papa.

Früher, in den guten alten Zeiten, also zu meiner Zeit, gab es noch eine geregelte Abfolge zur Erweiterung von Tempo und Bewegungsradius: Auf die Welt kommen, das erste Mal von der Rückenlage auf die Bauchlage drehen, robben, krabbeln, aufstehen, gehen, laufen, Fahrrad fahren. Seit geraumer Zeit ist zwischen Laufen und Fahrrad noch eine weitere "Projektphase" dazugekommen, die sich auch in unseren Breitengraden immer größerer Beliebtheit erfreut: das Laufrad

Sehr angesagt bei Kleinkindern, die schon in jungen Jahren zu gelangweilt vom klassischen Gehen sind. Und sich deshalb für eine pseudo-motorisierte Art der Fortbewegung entscheiden. Ohne dabei jemals Fred Feuerstein im barfußbetriebenen Steinzeitauto gesehen zu haben. Weil der gute Fred von Peppa Wutz und Konsorten längst schon ins fernsehgeschichtliche Neandertal zurückgeschickt wurde.

Ein Ausflug, der den Bach runterging. Und das ziemlich schnell.

Eines verregneten Herbsttages machte ich mich mit meiner damals zweijährigen Tochter auf zum Frischluftschnappen. Ich vorbildlich ausgerüstet mit Rohkost und Tee-Flasche für die hungerbedingten Boxenstopps, die Kleine abenteuerlustig mit Kinderhelm und Laufrad. Den ersten Teil der Spazierstrecke absolvierte sie pflichtbewusst und geschwindigkeitsdrosselnd neben mir, im autofreien Park dann gewährte ich ihr, ein paar Meter weiter vorauszucruisen. Als routinierte Laufradlerin hatte sie den Blick von nun an nach vorn gerichtet und ließ sich von Ömchen, Skatern und Enten nicht ablenken. Nur bei einer Sorte von Verkehrsteilnehmern wird sie schwach: bei Hunden. Ob Schoßhund oder Jagdhund, ob Langhaar oder Kurzhaar, ob Dackel oder Bernhardiner. 

Und so kam es zu einer Kombination von Ereignissen, die mir schon bald den Schlaf rauben sollte. 

Und die ich heute noch in der Zeitlupenversion vor mir sehe. Die Tochter also ein paar Meter laufradelnd vor mir, ein Hundebesitzer kommt ihr entgegen, der dazugehörige Vierbeiner schlendert in Augenhöhe bei meinem Nachwuchs vorbei, sie schaut ihm verzückt nach, dreht sich dabei um – und stapft dabei aber munter weiter nach vorn. Schon verzieht sie den Lenker nach links und steuert geradewegs Richtung Böschung, die ziemlich steil zu einem Bach runterführt. Während ich noch lauthals ihren Namen schreie, stürzt sie schon bergab, größtenteils im freien Fall, an die zwei Meter nach unten. Zum Glück war das Bachbett durch die starken Regenfälle und den dadurch von der Wiese abgeschwemmten Schlamm relativ durchgeweicht, wodurch der Aufprall erheblich gedämpft wurde. Aber alleine wäre sie aus diesem Schlam(m)assel auf keinen Fall wieder rausgekommen. Kopfüber im Morast steckend. Ich natürlich sofort hinterher, die wie am Spieß schreiende Kleine wieder rausgezogen und dann mit Müh und Not die rutschige Böschung raufgekeucht. Und erst mal gecheckt, ob durch den Aufprall auch noch alle Knochen heile sind. Zu meiner Erleichterung konnte ich keine Verletzungen feststellen. Hilfsbereite Seniorinnen wischten ihr mit Taschentüchern Tränen und Schmutz aus dem Gesicht. Vielen Dank dafür, ich sag auch nie wieder "Ömchen". 

Die Niki Lauda Methode.

Schade, dass man so schnell vergisst, wie man als Kind Ereignisse verarbeiten und sein Urvertrauen ins Leben wieder zurückgewinnen kann. Nach dem ersten Schock und einer warmen Dusche zu Hause war die Tochter Prinzessin wieder quietschvergnügt. Während bei mir noch der Schreck in allen Gliedern saß. Begleitet von den obligatorischen Selbstvorwürfen. "Hättest du sie bloß nicht so weit vorausfahren lassen." Aber diesen schmalen Grat zu erwischen zwischen freier Entfaltung und dem Beschützen vor Gefahren, ist nicht immer so leicht. Hunderten schlauen Erziehungsratgebern zum Trotz. 

In der darauffolgenden Nacht habe ich nicht gut geschlafen. Wohl wissend, dass Unfälle zum Aufwachsen dazu gehören und man die Kleinen ja nicht die ganze Zeit mit Michelin-Männchen-Schutzkleidung rumlaufen lassen kann – wenn einem um zwei Uhr morgens Unfallbilder vom eigenen Kind durch den Kopf geistern, kommt man mit vernünftigen Argumenten nicht weit. Aber am nächsten Morgen spürte ich – zwar nicht ausgeschlafen – doch wieder einen Anflug von vernünftigem Gedanken: "Vielleicht hilft es ja, wenn wir heute denselben Weg noch mal gehen", überlegte ich so bei mir. Und wenn wir diesen zweiten Rundgang dieses Mal dann hoffentlich ohne Unfall abschließen, kann ich vielleicht auch schneller meinen Frieden mit dem gestrigen Bachsturz machen. So, wie Niki Lauda anno 1976 nach seinem verheerenden Unfall am Nürburgring inklusive schwerer Brandverletzungen sich so schnell wie möglich wieder in den Formel 1 Wagen setzen wollte, um die Angst nicht siegen zu lassen. Gesagt, getan. Was der Lauda kann, können wir auch. Wir gingen also wieder zum Park, ich mit der langweiligen Zu-Fuß-Geh-Art, meine Tochter ungebremst frisch und fröhlich auf dem Laufrad. 

Alles war schon auf ein Déjà-vu ausgerichtet. 

Ungefähr dieselbe Uhrzeit wie am Vortag, ähnliches Wetter, ähnliche Lichtstimmung. Im Park ließ ich sie wieder ein paar Meter vorausfahren, und wir näherten uns bald schon der Stelle mit der Böschung. Nur der Unterschied zu gestern war: Ich hatte sämtliche Muskeln angespannt bis zum Bersten und war bei jeder Linksbewegung des Laufrads sprungbereit. 

Und was macht meine abgeklärte Zweijährige? Sie bleibt cool neben der Böschung stehen, schaut erst bedächtig runter, dann zu mir, direkt in meine vor Nervosität geweiteten Pupillen,  und sagt mit felsenfester Überzeugung: 

"Keine Sorge, Papa! Ich fall da nicht noch mal rein."

 

Christoph Bauer ist Vater von zwei Töchtern (4 und 7). Er arbeitet als freier Texter, Autor und Redakteur. Mehr auf www.christoph-bauer-text.com