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Ruhe und Sturm – Erinnerungen an meinen Vater

Wenn ich an meinen Vater denke, schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Als ich klein war, sah ich einen Helden in ihm. Später verstand ich vieles nicht. Um zum Schluss stand ein Kontaktabbruch. Doch bis es so weit kam, gab es viele schöne Momente. Ich frage mich manchmal, was anders hätte laufen müssen. Und ich weiß doch, dass man nichts an der Vergangenheit ändern kann.

Am Heiligen Abend war mein Vater der Fels in der Brandung. Meine Schwester und ich waren vor Nervosität kaum zu kontrollieren, die Bescherung war für uns ein Ritual, das für Adrenalin in rauen Mengen sorgte. So gesehen nichts Besonderes, kleine Kinder sind so, überall auf der Welt, wo Weihnachten gefeiert wird. Aber ich erinnere mich an meinen Vater sehr genau, er war nicht für das Schmücken des Baumes zuständig, nicht für das Einpacken der Geschenke. Und schon gar nicht für das weihnachtliche Essen, das immer so gut schmeckte. Diese Dinge erledigte meine Mutter gemeinsam mit meiner Oma, die ihr zwar half, sie zuweilen aber auch zur Weißglut bringen konnte. Die Aufgabe meines Vaters scheint auf den ersten Blick einfacher gewesen zu sein. Auf den ersten Blick.

 

Ruhe im Wald

Irgendwann gegen Mittag des 24. Dezembers schickte meine Mutter uns weg. Jetzt begann der Job meines Vaters. Er musste meiner Mutter den Rücken freihalten, damit sie alles für das Fest vorbereiten konnte. Das funktionierte am besten, wenn wir Kinder aus dem Haus waren, denn wir waren wie zwei Brummkreisel, die eine gekonnte Vorbereitung auf den Heiligen Abend schlicht unmöglich machte. Mein Vater setzte uns ins Auto und fuhr los. Er fuhr mit uns in den Volkspark in Hamburg. Ich habe ihn als einen riesengroßen Park in Erinnerung, weiß aber inzwischen, dass ein kleiner Junge eine andere Perspektive auf die Dinge hat. Heute kommt mir der Park nicht sonderlich groß vor, aber seine Schönheit hat er nicht eingebüßt. Mein Vater fuhr also mit meiner Schwester und mir in den Park und suchte ein schönes Waldstück, in dem er mit uns spazieren gehen konnte. Es war jedes Jahr das Gleiche: wir wollten nicht spazieren gehen, waren viel zu aufgeregt und dachten nur an Geschenke, Geschenke, Geschenke. Unser Vater aber strahlte dort im Wald eine unglaubliche Ruhe aus. Er zeigte uns Bäume, Pflanzen und forderte uns auf, dem Wald zu lauschen. All das tat er mit einer Ruhe, die auf uns abfärbte, auch wenn wir es kaum fassen konnten. So wurden die letzten Stunden vor der Bescherung zu einem Erlebnis der Ruhe und Ausgeglichenheit. Dank meines Vaters. Erst als wir im Auto saßen und wieder nach Hause fuhren, kehrte unsere Aufgeregtheit zurück. Die Ruhe im Wald - wir hatten sie meinem Vater zu verdanken.

Hektik im Haus

Irgendwann wurde es immer deutlicher. Ich war 12 Jahre alt, als meine Eltern sich trennten. Ich verstand es nicht. Und doch war es offenkundig: mein Vater hatte Mist gebaut, eine ganze Menge davon. Er hatte meiner Oma Geld geklaut, er hatte Werkzeug aus der Firma gestohlen, in der er arbeitete. Er wurde erwischt und gefeuert. Er hatte jahrelang die Füße hochgelegt, meine Mutter zwei Jobs erledigen lassen und sich selbst dem gepflegten Faulenzen hingegeben. Irgendwann platzte meiner Mutter der Kragen, sie konnte nicht mehr. Aus meiner Sicht waren jedoch ganz andere Dinge passiert. Mein Vater hatte uns Kinder im Laufe der Zeit immer mehr vernachlässigt, er zeigte wenig Interesse an uns und unternahm kaum noch etwas mit seinen Kindern. In den letzten Monaten vor der Trennung meiner Eltern war mein Vater nur noch selten zuhause und als meine Mutter die Beziehung beendete, verließ er fast fluchtartig das Haus und kam eine ganze Weile nicht mehr zurück. Später erfuhr ich, dass er eine Geliebte hatte, und zwar schon eine ganze Weile. Meine Mutter war über den Punkt hinaus, deswegen verletzt zu sein. Aber mir tat es weh. Mir tat weh, dabei zuzusehen, wie unsere Familie auseinanderbrach. Und wie mein Vater verschwand und uns zurückließ.

Die neue Frau, der alte Vater

Mein Vater heiratete Jahre später erneut. Seine neue Frau mochte uns nicht. Und wir mochten sie nicht. Sie sah uns als Konkurrenz an, sie bekämpfte uns regelrecht. Doch wir waren keine Konkurrenten, wir wollten nur einen Vater haben, auch und gerade nach der Scheidung. Zum großen Knall kam es, als wir unserem Vater zum Geburtstag einen Gutschein schenkten, ich war 16 Jahre alt. Der Gutschein bestand aus einem Essen, zu dem wir unseren Vater eingeladen hatten. Doch es gab einen Haken. Seine neue Frau stand nicht auf dem Gutschein, wir wollten unseren Vater für ein paar Stunden für uns haben, wollten einmal mit ihm sprechen, ohne dass seine Frau dabei war. Doch sie sagte, dass aus dem Essen nichts werde, wenn sie nicht dabei sein könne. Dann geschah etwas, das nach Jahren von Reibungen und Konflikten zum Kontaktabbruch durch uns führte. Mein Vater sagte das Essen ab. Wir konnten es nicht fassen, beschworen ihn, uns ein paar Stunden zu schenken, sich in einem einzigen Fall gegen seine dominante Frau durchzusetzen. Doch er wollte nicht, sagte, dass er sie verstehen könne, wir müssten dafür Verständnis aufbringen. Jahrelang hatte er sich Schritt für Schritt von uns entfernt, dieses Essen war der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Es war meine Schwester, die damals weinend sagte, dass sie ihn nie wieder sehen wolle, wenn er bei seiner Entscheidung bliebe. Ich war schockiert, fühlte aber ähnlich, wenn ich auch nichts sagte, sondern gespannt auf seine Reaktion wartete. Ich erinnere mich an die Sekunden bis zu seiner Antwort, sie zogen sich hin wie Kaugummi. Dann sagte er, dass sie wissen müsse, was sie täte, sein Entschluss stände fest.

Ein neuer Versuch

Bis zum heutigen Tage habe ich meinen Vater ein halbes Dutzend Mal gesehen, seit er damals seine fatale Entscheidung getroffen hat. In den letzten 10 Jahren sind wir uns gar nicht mehr begegnet. Ich spiele mit dem Gedanken, mich bei ihm zu melden, Frieden zu schließen mit ihm und daraus folgend auch mit seiner Frau. Es fällt schwer, weil mir und meiner Schwester von seiner Frau die Schuld für die Entwicklung gegeben wurde. Ich würde es nur schwer ertragen, wenn es wieder darauf hinausliefe, die Verantwortung für all zu tragen zu müssen, was geschehen ist. Weil seine Frau entschieden hat, dass ich verantwortlich bin. Andererseits ist mein Vater ein alter Mann geworden. Ich weiß nicht, wie viel Zeit ihm noch bleibt. Also werde ich es noch einmal versuchen. Er ist schließlich immer noch mein Vater. Auch wenn ich davon viele Jahre kaum etwas bemerkt habe.
 

Der Autor möchte anonym bleiben, ist der Redaktion jedoch bekannt.