Es ist Samstagabend. Ich stehe in einem nach Popcorn und Nachos müffelnden Foyer eines Großstadtkinos, umgeben von geschätzten dreihundert Frauen. Nur noch ein männlicher Mitstreiter ist in der Masse zu erkennen. Zwei Hähne in einem sehr großen Korb. Was bis hierher wie der Traum eines jeden Mannes klingt, ist in Wahrheit der Horror. Ein Horror, gegen den Freddy Krueger, Godzilla und alle Zombies aus Michael Jacksons Thriller kläglich verblassen.
Von Knoblauchzehen und Kruzifixen - Ängste aus der Kindheit
In einem Meer aus Östrogen
Wenig später sitzen wir im Kinosaal. Ich habe meinen Leidensgenossen aus den Augen verloren, aber ich weiß irgendwo hier in den Reihen verzückter Mädchen und Frauen, die sich tuschelnd und kichernd in ekstatischer Vorfreude ergehen, muss er sein. Einsam. Verloren. Nur von einem Gedanken erfüllt: Hoffentlich sieht mich niemand. Und dann öffnet sich der Vorhang und das Logo von Summit Entertainment erscheint. Augenblicklich schallt ein Jubel durch die Reihen, der nur noch durch den Jubel übertönt wird, der erschallt als der Titel des Films auf der Leinwand aufleuchtet: Twilight - Biss zum Morgengrauen. Während meine Frau wie eine 13-Jährige auf einem Justin Bieber Konzert kreischt, sinke ich langsam immer tiefer in meinen Sessel und denke: Stimmt, mit Grauen hat das hier viel zu tun.
Ich mag keine Eckzähne
Dabei besteht meine eigentliche Leistung nicht darin, als Testosteron-Insel in einem Meer aus Östrogen zu bestehen, sondern vielmehr darin, mir einen Vampirfilm anzusehen. Mag manchem Mann vor den schmachtenden „Ahs“ und „Ohs“ grauen, die die nächsten hundertzwanzig Minuten durch den Kinosaal hallen, sobald Edward oder Jacob auf der Leinwand auftauchen, beschleicht mich eine Furcht vor zu langen Eckzähnen. Ja, ich gebe es zu, ich fürchte mich vor Vampiren. Der Grund dafür liegt weit in der Vergangenheit.
Christian allein zu Haus
Sylt, 1978, 22 Uhr. Christian, acht Jahre, schleicht sich mit seiner Bettdecke aus dem Schlafzimmer durch den Flur. Nichts zu hören. Meine Oma und meine Mutter sind im Konzert. Da mein Vater diesen Sylt-Urlaub nicht mitmacht, heißt es heute Abend: Christian allein zu Haus. Und was könnte da verlockender sein als der Fernseher. Endlich ungestört durch all die Kanäle zappen (gut, 1980 sind das genau drei), die mir ab 20 Uhr verboten sind. Mal sehen, was da so passiert. Noch schnell die Schokolade aus Omas Versteck (das ich seit Jahren bestens kenne) geholt und den Fernseher eingeschaltet. In der ARD überzieht Kulenkampff gerade wieder „Einer wird gewinnen“. Aber das darf ich sehen, also langweilig. Ich schalte weiter und bleibe hängen. Auf dem Bildschirm bewegt sich der Schatten eines langen Armes gerade an einer Wand entlang. Dann ein Schnitt und es erscheint ein echsenhafter Kopf, aus dessen Mund zwei lange, scharfe Zähne ragen. Ich zucke zusammen, ziehe die Decke bis ans Kinn und verharre wie zu Stein erstarrt in meinem Sessel. Erst nach weiteren zwanzig Minuten schaffe ich es umzuschalten. Doch die Bilder bleiben in meinem Kopf. Nur unter Aufwendung all meines Mutes komme ich wieder ins Schlafzimmer und schlafe, dicht an die Wand gedrückt, ein.
Knoblauchzehen und Kruzifix
Fast beiläufig erkundige ich mich am Frühstückstisch bei meiner Mutter über Vampire. Seit gestern Abend weiß ich, dass ich unheimliche Angst vor ihnen habe. Denn anders als Zombies, Drachen oder King Kong kommen Vampire in Menschengestalt. Man erkennt ihre wahren Absichten nicht gleich. Und das macht mir Angst. Es dauert nur wenige Tage, bis auch meine Eltern erkennen: Die Lage ist ernst. Überall vermute ich Vampire, natürlich besonders in meinem Zimmer. Also wird nachgesehen, was gegen diese Plagegeister hilft. Da meine Eltern nicht möchten, dass ich des Nachts mit Hammer und Holzpflöcken über Friedhöfe schleiche, entscheiden wir uns für die passive Variante: Knoblauch und Kreuz. Beides gut sicht- und riechbar ans Bett gebunden. Als zusätzlicher Schutz kommt noch ein Vorhang vor das Hochbett, an dem kleine Glöckchen angebracht sind, damit ich den Vampir zur Not auch hören kann. So schlafe ich die nächsten Jahre, und wenn ich bei Freunden übernachte, werden Knoblauchzehen und Kreuz einfach eingepackt. Wenden diese ein, dass das ja nichts bringt, entgegne ich, dass ich zumindest bislang nicht gebissen wurde.
Eine Frau heilte mich
Es war schließlich eine Frau, die mich von meiner Angst heilte. Leider kann ich nicht sagen, meine Frau. Nein, es war Wynona Ryder, für die ich mit sechzehn schwärmte und die ausgerechnet in Bram Stokers Dracula mitwirkte. Tagelang rang ich zwischen meiner Angst und meiner Neugier. Schlussendlich war die Neugier stärker und ich ging mit einigen Freunden ins Kino. Meine Begeisterung für Wynona obsiegte über meine Furcht vor den Blutsaugern. Und es wirkte - nach diesem Erlebnis schien meine Furcht vor Vampiren wie verweht zu sein. Das Bild des Nosferatu, dessen Schatten die Treppe heraufsteigt, war verschwunden. Endlich keine Angst mehr.
Nichtsdestotrotz ertappe ich mich auch heute noch dabei, wie ich gelegentlich Knoblauch kaufe, auch wenn ich gar nicht vorhabe, etwas mit Knoblauch zu kochen. Man kann ja nie wissen.
Christian Mörken, 38 Jahre, lebt als freier Autor, Redakteur und Texter mit seiner Frau Gabriela und seinem Sohn Noah Maximilian in Stuttgart.