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Bindungs- und bedürfnisorientierte Erziehung – was steckt dahinter?

Theorien und Fachbücher zu erzieherischen Grundhaltungen gibt es wie Sand am Meer. Den meisten Eltern sind Begriffe wie autoritäre, antiautoritäre oder demokratische Erziehung und die Grundzüge der jeweiligen Erziehungshaltung geläufig. In jüngerer Vergangenheit findet man in Bezug auf die Erziehungsthematik häufiger den Begriff des „Attachment Parenting“, zu deutsch „bedürfnisorientierte Erziehung“. Dieser Begriff klingt neu und revolutionär. Lesen Sie hier, was bedürfnisorientierte Erziehung bedeutet, woher dieser Begriff kommt und welche erzieherische Grundhaltung dahinter steht. Zum Schluss werden noch die Grenzen dieser pädagogischen Richtung beleuchtet.

Die Grundlagen der bindungs- und bedürfnisorientierten Erziehung

Bindungs- und bedürfnisorientierte Erziehung ist keine Erfindung des neuen Jahrtausends. Die Wurzeln dieser Erziehungshaltung entstanden bereits in den 1940er Jahren und gehen auf den amerikanischen Arzt William Sears zurück. Sein wissenschaftliches Fundament hat diese erzieherische Grundhaltung in der Bindungstheorie von John Bowlby. Dieser untersuchte psychische Störungen bei Kindern und fand heraus, dass diese dann entstehen, wenn die frühe Mutter-Kind-Beziehung beeinträchtigt oder gestört war. Gerade das erste Lebensjahr eines Kindes ist wichtig, um eine sichere und verlässliche Bindung zu nahen Bezugspersonen wie Mutter oder Vater aufzubauen. Hier geht es um die Erfüllung der Grundbedürfnisse des Kindes: das Bedürfnis nach Schutz, Begleitung, Nähe, emotionaler Zuwendung. Wichtig hierbei ist die prompte und feinfühlige Reaktion auf das kindliche Bedürfnis.

Was bedeutet dies nun konkret? Ein Beispiel aus dem Familienalltag

Um die theoretischen Aussagen der bindungs- und bedürfnisorientierten Erziehung besser zu verstehen, soll diese nun am konkreten Beispiel dargestellt werden:

Stellen Sie sich vor, Ihr Kind liegt in seinem Bettchen und schreit sich die Seele aus dem Leib. Sie sind schon am Verzweifeln, denn Sie haben Ihren Zwerg gefüttert, er hat eine frischeWindel und er hat es warm und gemütlich. Sie sind mit Ihrem Latein am Ende und auch schon etwas genervt und überreizt. Sie rufen sich in Gedanken, was Ihre Oma kürzlich zu Ihnen sagte: „Kinder müssen auch mal schreien, das kräftigt die Lungen.“ Tante Erna wusste: „Verwöhne das Baby nicht zu sehr. Du musst nicht immer sofort hinrennen, wenn der Kleine schreit.“ Sie wissen gerade nicht mehr, was sie tun und wem Sie glauben sollen. Eigentlich spüren Sie, dass mit Ihrem Baby gerade etwas nicht in Ordnung ist, dass es irgendein Bedürfnis hat, was es befriedigt haben möchte. Und genau dies ist nun der Punkt, an dem das Attachment Parenting ansetzt: Ihr Baby schreit nicht aus Kalkül, weil es Sie ärgern möchte. Es weint, weil es mit einem nicht befriedigten Bedürfnis kämpft. Das ist in diesem Moment der Ruf nach Nähe, körperlicher und emotionaler Zuwendung, nach Schutz und Begleitung. Hier sollten Sie im Sinne der bindungs- und bedürfnisorientierten Erziehung prompt reagieren, das Kind nicht längere Zeit schreien lassen, sondern es aus seinem Bettchen nehmen und ihm Körperkontakt zu Ihnen ermöglichen.

 

Bindungs- und bedürfnisorientierte Erziehung im Kleinkind- und Schulalter

Auch im Kindergarten-, Grundschul oder Teenageralter spielt bindungs- und bedürfnisorientierte Erziehung eine große Rolle. Dies bedeutet nicht, dass Eltern immer gleich dem Willen des Kindes nachgeben sollen oder müssen.

Vielmehr lässt sich diese Art von Erziehung mit einem demokratischen Erziehungsstil und seinen Grundsätzen vergleichen:

  • Jeder hat Respekt vor dem anderen, die Eltern-Kind-Kommunikation findet auf Augenhöhe statt. Jeder darf seine Meinung sagen, jeder wird angehört.
  • Das Kind wird als „vollwertige“ Person wertgeschätzt: Eltern bringen ihren Kindern Wärme und Einfühlungsvermögen entgegen, unterstützen sie und bauen eine vertrauensvolle Beziehung auf.
  • Es werden keine Anweisungen oder Befehle erteilt, Sachverhalte werden erklärt und miteinander am runden Tisch diskutiert.
  • Es gibt keine Bestrafung
  • Beziehung statt Erziehung: Kinder werden ermutigt und unterstützt, so dass sie Selbstwert und Selbstvertrauen aufbauen können
  • Es gibt gemeinsame Regeln für das Zusammenleben, an die sich jeder halten muss - Eltern und Kinder. Im Idealfall werden diese gemeinsam festgelegt.

 

Gibt es auch Grenzen des bindungs- und bedürfnisorientierten Erziehungsstils?

Der bindungs- und bedürfnisorientierte Erziehungsstil bzw. die erzieherische Grundhaltung, die dahinter steht, ist nicht zu verwechseln mit einer laissez-faire-Haltung, die keine Grenzen für Kinder in der Erziehung vorsieht und das Kind sich weitgehend selber überlässt. Regeln und Grenzen muss es auch beim Attachment Parenting geben, nur werden diese nicht von den Eltern einseitig festgelegt, sondern gemeinsam erarbeitet. Hier stoßen auch viele Eltern an ihre persönlichen Grenzen, denn diese Art der Erziehung verlangt ein großes Maß an Geduld und Gesprächsbereitschaft ab. Von Außenstehenden wird oft kritisiert, dass Kinder, die in diesem Sinne erzogen wurden dazu neigen, alles ausdiskutieren zu wollen. Dies wird dann häufig als respektloses Verhalten den Erwachsenen gegenüber interpretiert.

Alles in allem jedoch überwiegen die Vorteile, die Kinder für ihr späteres Leben mitnehmen, wenn sie im Sinne einer bindungs- und bedürfnisorientierten Erziehung aufgewachsen sind: hohe emotionale Kompetenz, Empathie, Teamfähigkeit, Akzeptanz gegenüber anderen, ein gesundes Selbstvertrauen und ein positives Selbstwertgefühl. Entscheidende "Skills" im Umgang mit anderen Menschen, im Berufsleben und im sozial-kompetenten Zusammenleben in der Gesellschaft.

 

Quellen:

https://www.familie.de/eltern/beduerfnisorientierte-erziehung-attachment-parenting-1134965.html

http://www.bindungstheorie.net/