In der Anthropologie gilt es heute als gesicherte Erkenntnis, dass Kinder Vater und Mutter für eine gesunde Entwicklung benötigen. Die Realität sieht allerdings anders aus: In ca. 20 % der Familien fehlt der Vater, Tendenz steigen. Das hat insbesondere für Jungs gravierende Auswirkungen.
Wenn der Vater fehlt – Wie Jungen sich entwickeln
Der Vater ist ein wichtiges Vorbild, wenn es darum geht, eine eigene Identität zu entwickeln. Fehlt diese Möglichkeit, kann es zu Problemen mit dem Selbstbild und fehlendem Selbstvertrauen kommen. Aufgrund rein weiblicher Vorbilder wird die eigene Männlichkeit als etwas Fremdes und sogar Unnormales empfunden. Eine Vaterfigur im Leben ist wichtig – dabei spielt es für den Jungen keine Rolle, ob es sich dabei um den biologischen Vater oder eine andere Person handelt.
Der Vater – das unbekannte Wesen
Wächst ein Junge ohne Vater auf, dann ist nicht nur dieser, sondern auch die eigene Männlichkeit mit all ihren spezifischen Eigenschaften ein unbekanntes Wesen. Der Junge lernt nicht, was es heißt, ein Mann zu sein. Ebenso wenig lernt er, gerade die männlichen Eigenschaften an sich zu schätzen, da der Vergleich und auch die Bestätigung durch den ihm ähnlichen Vater fehlt. Bleibt nur die Mutter als Vorbild, entwickelt der Junge im schlimmsten Fall Scham, Ärger, Angst und Traurigkeit, empfindet sich selbst als „falsch“ und lehnt sich zunehmend ab. Die Folge davon kann neben mangelndem Selbstwertgefühl auch gesteigerte Aufsässigkeit sein, da die männliche Autoritätsperson fehlt.
Der Vater als Gegenpol zur Mutter
Ein Junge, der gemeinsam mit Mutter und Vater aufwächst, lernt in den ersten Jahren meist vorwiegend die weiche weibliche Seite seiner Mutter kennen. Mit steigendem Alter und zunehmender Persönlichkeitsentwicklung treten seine eigenen Anteile hervor, die im Vergleich ganz anders sind als die der Mutter. Jungen möchten raufen und toben, die meisten Mütter bevorzugen ruhige Spiele und kreative Tätigkeiten. Zum Teil ist das wilde Jungen-sein sogar verpönt und abgelehnt. Da kommt der Vater, der mit seinem Jungen wilde Spiele spielt, als Gegenpol genau richtig. Der Junge versichert sich dadurch, dass er mit seinen Bedürfnissen und Eigenschaften nicht ungewöhnlich oder allein ist. Gleichzeitig lernt er vom Vater den Umgang mit seinem männlichen Anteil.
Der Vater als Vorbild für die eigene Männlichkeit
Spätestens in der Pubertät wird ein Junge mit der Frage konfrontiert, was Männlichkeit ausmacht. Hier dient der Vater als Vorbild für die Definition des eigenen Mann-seins – ob als positives oder abschreckendes. Die Möglichkeit, mit einer Vaterfigur in Konflikt treten zu können, aufzubegehren, ist ein wichtiger Punkt in der Persönlichkeitsentwicklung eines Jugendlichen. Andererseits verinnerlicht jeder Junge auch Verhaltensweisen, die er sich beim eigenen Vater abgeschaut hat – das Zusammenleben mit dem Vater übt einen prägenden Einfluss aus. Dies ist besonders wichtig in der Begegnung mit dem anderen Geschlecht. Jugendliche, die Probleme mit der eigenen Männlichkeit haben, haben häufig auch Probleme mit ihrem Selbstbewusstsein. Fehlendes Selbstbewusstsein bei Jugendlichen verhindert, dass sie Mädchen auf Augenhöhe begegnen. Dies macht es ihnen schwer, Kontakte zum anderen Geschlecht zu knüpfen und die erste echte Freundin zu finden. Jugendliche wiederum, denen es lange Zeit nicht gelingt, eine Partnerschaft zu knüpfen, obwohl sie sich das wünschen, laufen Gefahr, sich in sich zurückzuziehen und sogar in eine Depression zu verfallen.
Studien haben ergeben, dass Jungen, die ohne Vater aufwachsen, später in die Pubertät kommen, als diejenigen aus "heilen" Familien. Dies verhält sich genau umgekehrt zu Mädchen, die ohne Vater aufwachsen. Seltsamerweise werden vaterlos aufgewachsene Jungen in dieser Studie auch vergleichsweise schnell selbst Vater. Andere Studien haben gezeigt, dass ohne Vater aufgewachsene Jungen ein gesteigertes Risikoverhalten, mehr psychische Auffälligkeiten und weniger verfügbare Schutzfaktoren zeigen. Dies führt unter anderem zu erhöhten Raucherquoten, einer deutlich erhöhten Zahl an Schulversagern, mehr Probleme mit Schlaflosigkeit, Hyperaktivität und emotionalen Problemen im Allgemeinen.
Alles nur Klischee?
Im Zuge der Trends von Feminismus und Gleichberechtigung wurde die spezielle Rolle des Vaters für Kinder, insbesondere für Jungen oft negiert. Väter galten als überflüssig, häufig sogar als Störfaktoren. Mittlerweile ändert sich diese Meinung wieder und es wird deutlich, dass die typischen Eigenschaften von Jungen und Mädchen keine Geschlechterklischees sind, sondern geschlechtsspezifische Bedürfnisse mit sich bringen.
Männliches Vorbild – es muss nicht unbedingt der Vater sein
Auch wenn das Zusammenleben mit Mutter und Vater als Ideal gilt, können sich Jungen auch ohne Vater gut und gesund entwickeln. Wichtig dafür: Sie brauchen eine männliche Bezugsperson. Das kann der neue Partner der Mutter, aber auch der Großvater, der Onkel oder ein Freund der Familie sein. In allen Fällen entscheidend ist, dass der Junge dort seine männlichen Anteile ausleben und einfach mal wild sein darf und seine Kräfte messen kann. Dazu braucht es Zeit und Raum sowie ausreichend Freiheit und die Bereitschaft der Mutter, den Sohn los- und seine eigenen Wege gehen zu lassen.
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